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UNIVERSITEIT GENT FACULTEIT LETTEREN EN WIJSBEGEERTE Vakgroep Duitse Letterkunde Die narratologische Konstruktion von Weiblichkeit auf dem Kontinuum zwischen Emanzipation und Konformismus. Eine gender-orientierte Textanalyse von zwei deutsch-türkischen Romanen: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus von Emine Sevgi Özdamar (1992) und Die Tochter des Schmieds von Selim Özdogan (2005) Promotor: Dr. Elke Gilson Verhandeling voorgelegd tot het verkrijgen van de graad MASTER IN DE VERGELIJKENDE MODERNE LETTERKUNDE door Jasmien Vandermeeren 2007 - 2008 Dankwort Mein Dank gilt meiner Mutter, die alle mögliche Werte und Tugenden des Lebens immer betont hat, der nie pessimistisch ist und immer lacht...die ich gerne meine Herzensfreundin nenne, obgleich sie mich noch immer erstaunt und ich sie vielleicht nie ganz kennen werde! meinen Freunden und Freundinnen: den Menschen aus meiner unmittelbaren Umgebung, nämlich Laila (tausend Mal Dank!), Gwen, Björn, Juliska, Riekie, Liesbet, Jan, David, Davy, Jorn, Elke, Helena, Christel….Dank für die Intelligenz, den Humor, die Ausflüge, das unendliche Plaudern und Kaffeetrinken…ihr werdet mir fehlen, als ich in Berlin leben werde. meiner Promotorin, Dr.Elke Gilson, die mich immer persönlich beraten konnte und die mich dazu angeregt hat, auf Deutsch zu schreiben, so dass ich die deutsche Sprache noch mehr als vorher liebe. meinem Bruder, der jetzt in Nepal lebt und trotzdem immer in meinen Träumen zum Vorschein kommt…ich weiβ, dass er stolz auf mich ist und ich bin stolz auf ihn! Meinem Vater und Annabel, meiner jüngeren Schwester Fleur… Sebastian Schutyser, Patrick Fauck und Sam Louwyck, weil sie ‘the sky is the limit’ als ultime Richtlinie fur das Leben betrachten…alle Künstler mit egoistischen Charakterzügen, aber mit weichen Herzen. Respekt! den Menschen auf verschiedenen Arbeitsstellen: meinen Kollegen der Bijloke, der flämischen Oper, der Biobäckerei, usw. INHALTSVERZEICHNIS 1. Die Rezeption der deutsch-türkischen Literatur: von Stereotypisierung bis zur literarischen Anerkennung…...………………………….1 2. Die gender-orientierte Erzähltextanalyse als Synthese von Narratologie und Feminismus…………………………………………………….3 3. Die Ich-Erzählerin in der Karawanserei: Das Fremde als Baustein der Identität…………………………………………………..7 4. Der auktoriale Erzähler in der Tochter des Schmieds: Die Idealisierung vom Eigenen………………………………………………………....17 5. Die Raumdarstellung in der Karawanserei: Das Fremde als Zuhause……………………………………………………………….33 6. Die Raumdarstellung in der Tochter des Schmieds : Die sozio-ökonomische Funktionalisierung und mentale Dualisierung von Räumen……………………………………………………..45 7. Die Handlung und der Plot in der Karawanserei: Weibliche Flaneusen und Pikaros, männliche Casanovas……………………………...52 8. Die Handlung und der Plot in der Tochter des Schmieds: Kontinuität und Zyklizität……………………………………………………………...66 9. Die Figurencharakterisierung: Von Kategorisierung in der Tochter des Schmieds bis zur Personalisierung in der Karawanserei…………………………………………………74 10. Schlussfolgerung……………………………………………………………………...79 11. Bibliographie………………………………………………………………………….82 1. Die Rezeption der deutsch-türkischen Literatur: von Stereotypisierung bis zur literarischen Anerkennung I mean to say that in discussions of the Orient, the Orient is all absence, whereas one feels the Orientalist and what he says as presence; yet we must not forget that the Orientalist’s presence is enabled by the Orient’s effective absence. 1 -Edward Said Das Zitat aus Edward W. Saids Orientalism ist bis in die neunziger Jahre charakteristisch Literaturkritik für die und Qualifizierung Literaturwissenschaft der in Migrationsliteratur Deutschland. Das durch die okzidentale Orientbild ist laut Said nur eine ideologische Konstruktion, um die Alterität der orientalischen Kultur zu erfassen. Es hat mehr als zwanzig Jahre zu einer stereotypisierten Rezeption von AutorInnen nicht-deutscher Herkunft aus dem orientalischen Gebiet beigetragen. Die Literaturwissenschaftler wurden sich der Stereotypisierung von jenen AutorInnen bewusst, und wollten sich ab den neunziger Jahren von Etiketten wie ‘Gastarbeiterliteratur’, ‘Ausländerliteratur’ und ‘Betroffenheitsliteratur’ distanzieren. Nach neueren Veröffentlichungen wurde die literarische, ästhetische Qualität der Literatur von AutorInnen Johnson skizziert nicht-deutscher in ihrem Herkunft kritischen allmählich Beitrag über anerkannt. die Sheila Literatur von deutschschreibenden Autorinnen islamischer Herkunft die unterschiedlichen Phasen in der Rezeption von Migrantinnenliteratur. Man könnte die Entwicklung auch auf die Gesamtliteratur von AutorInnen nichtdeutscher Herkunft projizieren. Seit den sechziger Jahren gibt es AutorInnen nichtdeutscher Herkunft, die auf Deutsch schreiben. Das Interesse an der ‘Mischsprache’ von MigrantInnen, an Schreiben in der Fremde, wurde erst in den achtziger Jahren sehr aktuell: damals fingen MigrantInnen an, “sich Deutsch als Sprache ihrer Kreativität anzueignen”. 2 Alev Tekinay äußert sich 1 besonders zynisch über die Aufwertung jener sogenannten Edward W. Said: Orientalism. London: Penguin. 2003. S. 208. Sheila Johnson: “Literatur von deutschschreibenden Autorinnen islamischer Herkunft.” In: German Studies Review. 20 : 2 (1997). S. 261-278, hier S. 266. 2 Gastarbeiterliteratur um der Sprache willen. Sie verknüpft das plötzliche Interesse des deutschen Lesepublikums mit der Sättlichkeit des deutschen Kanons: In einer Zeit, in der die deutsche Literatur in einer Sackgasse gelandet war und sowohl in bezug auf Erzählstoffe als auch auf Sprache und Stil etwas eintönig geworden war, erschienen die Fremden wie rettende Engel.[…] Wir sollen Rechenschaft ablegen vor Muttersprachlern. Wir sollen Muttersprachlern zeigen, wie gut wir ihre Muttersprache beherrschen.[…] Aber trotz unserer Verliebtheit in die deutsche Sprache läßt das Interesse der Deutschen für unsere Literatur nach. 3 Die Sprache wurde außerdem erst dann in das Blickfeld gerückt, als sie die Okzident stilistische und die und “kulturelle Verschmelzung Vermittlung zwischen Orient Traditionen” 4 literarischer und verkörperte. Iman O. Khalil hat in seinem Essay die damalige Rezeption von arabischen AutorInnen in Deutschland kritisiert als eine “Rezeptionssicht, die von der Verwendbarkeit ausländischer Literaten in Deutschland aus[ging], indem diese Rezeption deren Schrifttum vorwiegend als ein Mittel zur Versöhnung der Kulturen und Religionen auffasst[e] und es nicht nach der literarischen Qualität und der ‘Gastarbeiterliteratur’ undoppeldeutigen dichterischen oder ‘Ausländerliteratur’ Namensgebung – interpretiert[e]” 5. Aussage nicht so war – je sehr Teil der nach Die der deutschen Literatur, als schon vielmehr Teil einer “Sozialkritik” 6, behauptet Mely Kiyak in Generation Almanya: Man kann sagen, dass die Migrantenliteratur nicht für Migranten geschrieben worden ist. Ein Großteil der Texte war adressiert an die Aufnahmegesellschaft. Schaut her, so fühlen, so denken, so leben wir. Dadurch hat sie sich selber diskreditiert. Bis Ende der Achtzigerjahre ging es nicht um Sprache oder Stil, sondern darum, dass das Geschilderte auch wirklich wahr ist. 7 Die Rezeption hat sich trotzdem in den letzten Jahren geändert: Sheila Johnson (sowie auch Kiyak, Tekinay, Müller u.a.) bemerkt eine Verschiebung von Nichtrezeption (Ausschluss), über eine “populäre 3 Alev Tekinay: “In drei Sprachen leben”. In: Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. Hrsg. von Sabine Fischer und Moray McGowan. Tübingen: Stauffenburg 1997 (= Studien zur Inter-und Multikultur, Bd. 2), S. 27-33,hier S. 28. 4 Iman O. Khalil: “Arabische Autoren in Deutschland”. In: Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. 1997. S. 115-131, hier S. 121. 5 Ibid. 6 Mely Kiyak: “Generation Almanya. Aus der Nische in die breite Öffentlichkeit.” Rotary International. 11. 2006.< http://rotary.de/rotary_verlag/rotary_magazin/0611/1106_almanya.pdf>. S. 46-48, hier S. 47. 7 Ibid. 2 Bestätigung” 8 in den achtziger Jahren (in der Periferie; Trivialliteratur), bis zur vollständigen literarischen Qualifizierung ab den neunziger Jahren (im Zentrum; Belletristik). Die Entwicklung der Literatur könnte man auch in drei Phasen einteilen: zuerst gab es Gastarbeiterliteratur über die Migration, zweitens gab es eine ‘Betroffenheitsliteratur’ über die sozio-kulturelle Lage in der Fremde, letztens gab (und gibt) es eine deutsch-türkische Literatur, die sogar “übernationale” Merkmale aufweist. Mely Kiyak konkludiert mit Überzeugung: Die neue deutschtürkische Literatur braucht keine ausgestreckte Hand mehr. Sie ist angekommen und tritt so lange einen Schritt zur Seite, bis sie ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft dauerhaft einnimmt und von dort aus ihre Wirklichkeit erzählt, mit rollendem “r” und Prosecco in den Pausen. 9 Die literarische Analyse wird letztendlich immer wichtiger, weil man einsieht, dass die damaligen stereotypen Kategorisierungen der Diversität der deutsch-türkischen Literatur nicht entsprechen. Die Aufmerksamkeit wird jetzt auf die literarischen Prozesse gelenkt, im Gegensatz zu früheren, inhaltlich orientierten Interpretationen, die vielmehr homogenisierend wirkten. Eine ähnliche Verschiebung im narratologischen Bereich ist für diese Arbeit von Literaturwissenschaft größter war zwar Wichtigkeit: lange Zeit ein die feministische inhaltlich orientierter Wissenschaftsbereich, hat sich in den letzten zehn Jahren aber mit der klassischen Narratologie Erzähltextanalyse an die versöhnt. Stelle So getreten, ist die eine die gender-orientierte geschlechtsspezifischen Merkmale der inhaltlichen und formalen Ebene miteinander verknüpft. 2. Die gender-orientierte Erzähltextanalyse als Synthese von Literaturwissenschaftler und Narratologie und Feminismus. In den Soziologen Versöhnung letzten sich zwanzig darum zwischen Jahren bemüht, den haben eine wissenschaftliche unterschiedlichen interdisziplinäre kulturwissenschaftlichen Bereichen und der laut Nünning und Nünning auch “schon vom Ansatz her 8 9 Sheila Johnson. 1997. S. 261-278, hier S. 266. Mely Kiyak: “Generation Almanya.” S.48. 3 ahistorischen, geschlechtsindifferenten und rein textzentrierten ‘klassischen’ Narratologie” 10 zu erreichen. Vera und Ansgar Nünning haben dieser Versöhnung in ihrer gender-orientierten Textanalyse Gestalt gegeben. Sie machen einen pragmatischen Unterschied zwischen Narratologie und Feminismus: Im Gegensatz zur semiotisch-formalistischen Orientierung der Narratologie sind feministische Interpretationen in der großen Mehrzahl mimetisch-inhaltlich ausgerichtet.[…] Aus den jeweiligen Erkenntnisinteressen und Zielsetzungen der beiden Ansätze ergeben sich auch unterschiedliche methodische und inhaltliche Präferenzen. Während sich die Narratologie für story und discourse (vgl. Chatman 1978) – d.h. die erzählte Geschichte und die Struktur der erzählerischen Vermittlung – gleichermaßen interessiert, beschäftigen sich feministische Arbeiten sehr viel stärker mit dem >Was< als mit dem >Wie< […]. 11 Der literaturwissenschaftliche Feminismus war lange Zeit eine inhaltlich orientierte Wissenschaft, die auf der Ebene des Erzählten (der ‘story-Ebene’) versuchte, die konkrete Positionierung der Frau ziemlich essentialisierend aus dem geschilderten Verhalten abzuleiten. Was erzählt wird, wird an Hand von soziologischen Begriffen analysiert und als direkter Ausdruck von ‘Weiblichkeit’ (oder Männlichkeit) interpretiert. Die Frage, wie diese Repräsentationen literarisch gestaltet werden, wird von den meisten feministischen Untersuchungen nicht beantwortet. Die feministische Narratologie hat allmählich doch einige Schritte in die Richtung einer discourse-orientierten zum Beispiel das Analyse neue gemacht. Interesse an Nünning dem und Nünning erzählenden erwähnen Geschlecht, im Gegensatz zum erzählten Geschlecht auf der story-Ebene. So ist die Frage nach dem Geschlecht der Erzählinstanz (bei heterodiegetischen, auktorialen Erzählinstanzen) für meine Untersuchung gewiss relevant. “Zu den Aspekten des Textes, die bei RezipientInnen konventionelle Vorstellungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit aufrufen und so zu einem gendering der Erzählinstanz führen können, gehören neben dem Inhalt der Erzählung und dem Inhalt der Kommentare der Erzählinstanz auch stilistische 10 Vera und Ansgar Nünning: “Von der feministischen Narratologie zur gender-orientierten Erzähltextanalyse.” In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. von Vera und Ansgar Nünning. Stuttgart, Metzler 2004 (= Serie Sammlung Metzler, Bd. 344), S. 1-32, hier S. 10. 11 Ibid., S. 8. 4 Merkmale[…]. 12”, so behaupten Allrath und Surkamp im Kapittel über die erzählerische Vermittlung. Eine gender-orientierte Erzähltextanalyse hat sich aus feministischen und narratologischen Ansätzen entwickelt. Es geht jedoch laut Nünning und Nünning “längst nicht mehr nur um >Frauenbilder<, sondern auch um narrative Konstruktionen Vorstellungen von Wechselwirkung – und Dekonstruktionen >Weiblichkeit< von und – historisch >Männlichkeit< Geschlechterkonstruktionen.” 13 variabler sowie Die um die gender-orientierte Erzähltextanalyse führt laut Nünning erstens zu einer Operationalisierung von Begriffen und Kategorien aus dem Bereich der Kulturwissenschaften und Gender Studies. Zweitens wird auch erwähnt, dass die ‘Kontextualisierung’ von literarischen Arbeiten an die Stelle der vorher erwähnten semiotisch-formalistischen Narratologie und des inhaltlich- mimetischen Feminismus getreten ist. Die Interaktion zwischen Literatur und Kontext wird also aufs Neue in den Vordergrund gerückt (im Gegensatz zu früheren strukturalistischen Methoden). Drittens wird auch noch darauf hingewiesen, dass die unterschiedlichen Erzählformen selbst historisch bedingt sind. “So gibt es in jeder Epoche nicht nur bestimmte kulturell verfügbare Plots[...], sondern auch priviligierte Techniken der erzählerischen Vermittlung auf der discourse-Ebene[...] Auch alle anderen Bauformen des Erzählens – z.B. die Raumdarstellung[...], die Zeitdarstellung [...] und die Figurendarstellung Nünning und Erzähltextanalyse [...] behaupten auch sinnorientiert wird auch geschichtlichen viertens, ist, dass dadurch Bedeutung analysiert wird: wie Geschlechtsidentität(en) Schluss unterliegen Nünning zwischen Form und untersucht, – “Erzählformen und das zur Geschlechterdifferenz” 15 Funktionspotenzial von Veränderungen.” 14 die dass gender-orientierte die Interaktion es wird zum Beispiel Konstruktion von führen Literatur können. Zum betont: man 12 Gaby Allrath und Carola Surkamp: “Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung.” In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. von Vera und Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler 2004 (= Serie Sammlung Metzler, Bd. 344), S. 143-179, hier S. 148-149. 13 Nünning und Nünning: “Von der feministischen Narratologie zur gender-orientierten Erzähltextanalyse.” S.22. 14 Ibid., S. 25. 15 Ibid. 5 beschreibt die verschiedenen Erzählformen (potenziellen) Schlussfolgerung ziehen, nicht nur, Funktionen. dass die sondern Man könnte wichtigste untersucht hieraus Verschiebung ihre also von die einer feministischen zur einen gender-orientierten Narratologie wohl die erneute Verbindung zwischen Inhalt und Form, sowie Text und Kontext ist. Durch die effektive Operationalisierung erzähltheoretischen dazu im Modellen Stande, ist die von geschlechtsspezifischen, gender-orientierte geschlechtsspezifische Merkmale Analyse in übrigens weiblichen únd männlichen literarischen Texten zu erforschen und zu beschreiben. Die literarischen Özdogan 17 Texte könnte man von Emine gewiss auch Sevgi mit Özdamar 16 diesen und Selim geschlechtsspezifischen Erzählkategorien analysieren. Die beiden Geschichten ähneln sich auf der story-Ebene: es handelt sich jeweils um ein Mädchen, geboren in Anatolien, das mit der Familie in der Türkei herumreist. Die Suche nach einer eigenen Identität, nach einer richtigen Stelle in der (patriarchalen) soziokulturellen Umgebung ist das Hauptthema. Am Ende wandern die beiden Mädchen nach Deutschland ein. Die Story ist aber dermaßen von dem Geschlecht der Erzähler und Darstellung Handlungsträger (discourse-Ebene) geprägt, zu dass ganz sie auf der unterschiedlichen Ebene der literarischen Darstellungen von Raum, Plot, Handlungen und Figuren geführt hat. Meine These hat sich aus dieser ins Auge springenden Differenz zwischen story und discourse entwickelt: Ich möchte untersuchen, wie die Kategorien der story-Ebene (d.h. ‘fabel’ oder die Zeit - und Raumdarstellung, die Personenkonstellation, die Handlungen) Erzählinstanzen, geschlechtslosen jeweils gender-orientierte Fokalisierungsinstanzen Instanzen; sie Merkmale und werden aufweisen. Figuren von sind Die keine soziokulturellen Genderkonstruktionen bestimmt. Wie und was erzählt wird, sind in dem Sinne Ausdruck der Männlichkeit oder Weiblichkeit des erzählten oder erzählenden Geschlechts. Die narratologische Inszenierung vom Gender hat in den beiden Romanen zu einem ganz unterschiedlichen ‘discourse’ (d.h. 16 Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus. Köln: Kiepenheuer und Witsch. 1992. 17 Selim Özdogan: Die Tochter des Schmieds. Berlin: Aufbau. 2005. 6 der Struktur der erzählerischen Vermittlung oder ‘sujet’) geführt. Die Karawanserei ist emanzipatorisch, persönlich und kritisch. Die Perspektive der Ich-Erzählerin ist von größter Wichtigkeit für die Beschreibung und Modellierung der literarischen Kategorien. Jene naive Perspektive ist zugleich auch ein wesentlicher Teil der emanzipatorischen Gestaltung ihrer Identität. Die Tochter des Schmieds ist exemplarisch statt emanzipatorisch: der auktoriale Erzähler will seinen Lesern ein Sozialdokument anbieten, ‘wie es gewesen ist’. Die Suche nach Identität ist hier vielmehr eine kollektive Suche: sie ist repräsentativ für die Darstellung der türkischen Vergangenheit, statt Tochter Schmieds des emanzipatorisch. Der beschreibt die auktoriale Erzähler Verhältnisse in innerhalb der einer anatolischen Familie auf eine nüchterne, sachliche Art und Weise. Die Unparteilichkeit von Özdogan verrät jedoch eine bewusste Erzählstrategie, um das Schicksal der Frauen in der Türkei als eine allgemeine Gegebenheit darzustellen, auf dass das deutsche Lesespublikum sich möglichst gut in die spezifische Lage der türkischen Gastarbeiter einleben kann. Die Einfühlungsgeschichte zeigt allerdings nicht, wie das Leben in der Türkei auch zur Eigenständigkeit und Emanzipation führen konnte. Der Konformismus von Frauen wird in den Vordergrund gerückt, denn es wird vor allem betont, wie die Frauen sich auf passive Art und Weise ihrem Schicksal fügten und so das Patriarchat mit aufrecht erhalten haben. Die personale Erzählinstanz in der Karawanserei und die auktoriale Erzählinstanz in der Tochter des Schmieds sind von größter Bedeutung, um die jeweilige weibliche und männliche Orientierung der Handlungsträger, Fokalisierungsinstanzen und Nebenfiguren zu analysieren. 3. Die Ich-Erzählerin in der Karawanserei: das Fremde als Baustein der Identität. In seiner Analyse vom Fremden als Ausdruck der Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination unterschiedlichen Modi und des Bedrohung, hat “Fremderlebens” Ortfried Schäffter hingewiesen. auf Diese die Modi 7 basieren auf verständlich, Unterscheidungsmustern, vorhersehbar und die damit in “die Welt gewissem [gliedern], Maße sie beherrschbar [machen]” 18. Die Deutungsmuster sind jeweils ziemlich scharf umrissen und werden irgendwo zwischen Faszination und Bedrohung situiert. Özdamar hat diese Mischung zwischen Faszination und Bedrohung jeweils in einem anderen Kontext erlebt: sie ist als Kind immer in die Türkei herumgezogen, ist dann nach Deutschland abgefahren, danach ist sie in die Türkei zurückgekehrt und im Jahre 1970 ist sie letztendlich in Deutschland geblieben. Was ihr fremd war, war vorher auch schon Eigenes gewesen und umgekehrt. Diese relative Eigenheit und Fremdheit führt durch die komplexe Dynamik zu immer wechselnden Standpunkten über die eigene Identität und die Erkenntnis des Fremden, sowie auch Schäffter es formuliert hat: Aus der nicht mehr zu leugnenden Vielzahl eigenständiger Perspektiven und gleichermaßen “möglicher” Interpretationen der Welt wird erkennbar, daß im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Bezugssysteme kein unbestreitbares Fundament und kein allem übergeordneter Bezugspunkt zur Verfügung steht, um über sie zu entscheiden. Die Vorstellung einer universellen Rationalität wird ebenso fragwürdig, wie die einer universell beobachtbaren empirischen Welt. 19 Weil “Eigenes und Fremdes [sich] wechselseitig relativieren und bestimmen” 20, kann Özdamar ihre persönliche Geschichte in eine Mischung von Deutsch und Türkisch übersetzen. Die Sprache der jungen Ich- Erzählerin ist der Beweis dafür, dass Özdamar mit einem Bein in der deutschen Kultur stand (so zwischen 1965 und 1967, ab 1976 bis heute) und sich mit dem anderen noch in der türkischen Kultur befand. Die verlorene Mutter- (und auch Kinder)sprache wird mit neuen Spracherfahrungen aus Deutschland konfrontiert und ergänzt. Özdamar ist nicht nur auf die Suche nach der verlorenen Muttersprache gegangen, sondern auch nach der Art und Weise, die Muttersprache in der Fremde mit dem utopischen, fast kindisch naiven Verlangen nach der “Brechtschen Sprache” zu versöhnen. Aus diesem Grund, nämlich der Bewunderung für Brecht, ist sie damals nach Deutschland eingewandert, so behauptet sie selbst. Die verfremdende 18 Ortfried Schäffter: “Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit.” In: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Hrsg. von Ortfried Schäffter. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991. S. 11-42, hier S. 15. 19 Ibid., S. 25. 20 Ibid. 8 deutsche Sprache sollte ein Komplement zum (fast) fremden Türkischen werden. Das arabischen Bewusstsein und türkischen des musikalischen Sprache (wie eine Rhythmus der (fremden) “Kamelkarawane” 21), das wortwörtliche Übersetzen ins – verfremdende – Deutsche und die sogar kaum unübersetzbare arabische Bildsprache haben zu einer neuen Synthese geführt, in der Eigenheit und Fremdheit in einer engen Beziehung zueinander stehen. Die arabische Sprache ist einst für die junge Özdamar ebenso fremd gewesen, wie das Deutsche in ihren zwanziger Jahren. Das Nachplappern von Erwachsenen, sei es im Arabischen oder später auch im Deutschen, ist für sie immer ein Teil der Identitätsbildung geblieben. Da waren drei deutsche Frauen, die am Theater arbeiteten. Ich hörte ihre Stimmen. Eine sagte na ja, oder die andere sagte natürlich. Und ich war vor dem Spiegel, ich hatte Seife in der Hand. Ich kriegte plötzlich Angst. Ich sagte, wessen Affe bin ich. Ich spreche deutsch, aber von wem habe ich deutsch gelernt? Hätte ich die, wenn ich diese Menschen als Kind kennen gelernt hätte, geliebt? Ich kenne die Maske nicht. Ich benutze diese Wörter. Sind das gute Wörter oder nicht? 22 Die Frage, ob sie diese Menschen als Kind geliebt hätte, von denen sie Deutsch gelernt hat, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass Özdamar die kindlich-naive, ungehemmte Verwendung einer Sprache mit autoritären Figuren und Faszination verknüpft: sie wollte arabisch sprechen, weil ihre Großmutter das Arabische noch kannte, sie wollte Deutsch lernen, weil sie Bertolt Brecht dermaßen für seine literarischen Qualitäte bewundert hat. Die Faszination und Bedrohung einer fremden Sprachen ist im oben erwähnten Zitat jedoch sehr deutlich: ohne die kindliche Faszination für das Fremde, wird man sich seiner Maske sehr bewusst. Zugleich bin ich der Meinung, dass Özdamar in ihrem Roman auch vor einer allzu naiven Faszination fürs Eigene gewarnt hat. Dann bekommt man Angst vor dem Fremden und Angst um die Identität zu verlieren; diese Angst hindert Menschen daran, die Grenzen ihrer Kenntnis zu verrücken. Nach Özdamar gab es diese Angst auch in Deutschland; sie assoziiert die Angst mit der Verweigerung, ein Stuck des Eigenen hinzugeben. Man läuft kollektiv hinter 21 Özdamar: Karawanserei. S. 55. Sabine Kroissenbrunner: “Barbara Frischmuth und Emine Sevgi Özdamar. ‘Schrift des Freundes’‘Die Brücke vom goldenen Horn’- ‘Seltsame Sterne starren zur Erde’. Ein literarischer Blickwinkel zum Thema Türkei und Europa.”19/04/05 <http://www.kreisky.org/kreiskyforum/pdfs/rueck/236.pdf>. S. 1-11, hier S. 7. 22 9 den Wörtern her, anstatt eine persönliche Balance zwischen Eigenem und Fremdem zu suchen: Und dann ist mir auf der Straße aufgefallen, Männer liefen zusammen, als ob sie hinter ihren Wörtern her laufen würden. Sie sprachen ganz laut ihre Sprache, griechisch oder türkisch, als ob die Wörter sie von einer Straße in die andere bringen würden. […] Und jetzt machen die Türken, Italiener, Griechen das nicht mehr. Die Russen machen das. Die Russen sind noch nicht in Deutschland, die sind noch in Russland, oder in Polen. Die laufen hinter ihren Wörtern her. Bei mir war das so, erst habe ich mal in türkisch Tagebücher geführt. Und dann habe ich nach zwei Jahren angefangen mit deutsch zu mischen. Dann bin ich nach Frankreich mit Besson, und dann gab es nach zwei Jahren auch französische Wörter. Plötzlich war da so eine gemischte Sprache. Wenn ich aber am Theater war, egal ob ich die Sprache wenige [sic] konnte oder nicht, hatte ich gar keine Angst. 23 Die Suche nach Identität ist also eine Suche nach Gleichgewicht zwischen dem Eigenen und Fremden. Özdamar hat diese Thematik des Gleichgewichts in der Karawanserei bilderhaft zum Ausdruck gebracht. Sie hat das Oszillieren in der Identitätssuche (und somit in der Sprache) mit dem Prozess des Laufenlernens verknüpft : Großmutter sprach diese arabischen Wörter, die wie eine Kamelkarawane hintereinander liefen, in meine Augen guckend, in ihrem Kapadokia-Dorfdialekt. Die Kamelkarawane sammelte sich in meinem Mund, ich sprach die Gebete mit Grossmutter, so hatten wir zwei Kamelkarawanen, ihre Kamele, die grösser waren als meine, nahmen meine vor ihre Beine und brachten meinen Kamelen das Laufen bei. 24 Das Nachahmen ist ein wesentlicher Teil der Identitätssuche: man gelingt so zur Kenntnis über die Welt, die Vergangenheit und das Eigene. Die Großmutter Geschichten, türkische verkörpert Märchen, Identität ‘Volksgeist’. Ihre märchennahen mit ihren Weisheiten, oder Sprache Bildersprache, sogar arabischen Sprüchen einen basiert mit auf Gebeten, eine kollektive, romantischen, dem Metaphern türkischen orientalischen Arabischen, und uralte auf einer idiomatisierten Ausdrücken. Das Mädchen ahmt die Sprache der Großmutter nach, aber die Bedeutung der Wörter kommt erst nachher. Am Anfang ist sie noch zu naiv: sie kennt den Unterschied zwischen wortwörtlichem und übertragenem Wortgebrauch nicht. Sowie sie das Arabische der Großmutter nur der Form nach kennt, interpretiert sie die Bedeutung der Mahnung zur Solidarität und zum Mitleid im unten stehenden Zitat der Form nach: 23 Sabine Kroissenbrunner: “Barbara Frischmuth und Emine Sevgi Özdamar”. S. 6-7. Özdamar: Karawanserei. S. 55. 24 10 Wenn du einen Blinden siehst, geh zu ihm, stell dich neben ihn, mach ein Auge zu, so findest du seine Nähe. Wenn du einen Stummen triffst auf der Straße, hebe einen Stein von der Erde, lege den Stein über deine Zunge. 25 Die Erzählerin interpretiert die Aussprache der Großmutter wortwörtlich und äfft tatsächlich einen behinderten Jungen nach. Weinend lief ich weiter in die Richtung unserer Gasse, da kam ein Junge, er hatte kaputte Beine. Beim Gehen legte sein Körper sich mal auf die rechte Seite, mal auf die linke Seite. Warum, wußte ich nicht, ich fing an, noch Tränen im Gesicht, so zu laufen wie er. Er kam, rechts, links wackelnd, zu mir, ich ging rechts, links wackelnd zu ihm. Er schaute mich an, als ob er seinen Augen nicht glauben würde, ich schaute auf ihn, als ob ich meinen Augen nicht glauben würde, dann kam seine Mutter, er sagte laut zu ihr: “Muumumutter, dadadas Mämämädchen mamacht sisisich lüstitig üüüber mimich.” 26 Hier wird gezeigt, wie das Mädchen ihre eigene Identität mit vielen Rückschlägen zu gestalten versucht. Sie nimmt der Großmutter zum Vorbild, muss aber trotzdem ihre naive Kenntnis je nach der Situation und Umgebung anpassen. Die Anpassungsfähigkeit wird daher auch zum Hauptmerkmal des Mädchens: eben weil sie so oft umhergezogen ist, wird sie sich überall retten können. Das Umgehen mit dem Fremden ist für sie eine Lebensweise geworden: sie wird sich immer neu orientieren können. Die neugierige, emanzipierte und unabhängige Haltung der Ich-Erzählerin wird von ihrer Familie anerkannt, sie realisieren sich, dass sie ihren Mann (ihre Frau) stehen wird, auch wenn sie die Geborgenheit der Familie und der türkischen Umgebung verlassen würde: Großmutter sagte: “Ihre Füße sind von der Erde weggeflogen. Sie muß fliegen, sonst kommen ihre Füße nicht mehr zurück auf die Erde.” Vater sagte: “Ich glaube an meine Tochter, sie ist meine Löwentochter.” Mutter sagte: “Ich kann sie in der Mitte eines Soldatenheeres als einziges Mädchen allein lassen, ich finde sie da, so wie ich sie dagelassen habe.” 27 Die Emanzipation wird auch in der Erzählform selbst ausgedrückt: die junge Erzählerin sieht schon früh ein, dass die Welt keineswegs Anspruch auf die ‘objektive, eindeutige Wahrheit’ erheben kann. Die verschiedenen Perspektiven der Leute in ihrer Umgebung werden anerkannt und nüchtern beschrieben: Also, mein Vater war für meine Mutter Müteahhit [Bauunternehmer], für meine Großmutter Assistent eines arbeitslosen Meisters, für mich war der Mustafa der Käufer meines Fastentages für 25 Kuruş. Für meinen kleinen Bruder Orhan war 25 Özdamar: Karawanserei. S. 55. Ibid., S. 135. 27 Ibid., S. 370. 26 11 Mustafa der Mann mit Schnurrbart, für meinen Bruder Ali war der Mustafa der Mann, vor dem er sich manchmal verstecken mußte. 28 Dadurch dass sie auf humoristische Art und Weise die Vorstellung von Mustafa beschreibt, relativiert sie die Wahrheitsansprüche und Perspektive jedes einzelnen Individuums. Die Ich-Erzählerin wird im Alltag ständig mit inkonsequenten Äußerungen der Leute in ihrer Umgebung konfrontiert. Da sie immer die Aufmerksamkeit darauf lenkt, wird dem Leser auch klar gemacht, dass die Welt ein konventionalisierter Schauplatz ist, in dem Erzählungen, Formeln und sogar Lügen Teil des Lebens sind. Die ‘Anderen’ erscheinen in ihrer Perspektive deshalb öfters als unzuverlässig und, obwohl das Mädchen sie nicht verurteilt, ist es für sie doch ein fragwürdiger Charakterzug: Ich fragte meine Großmutter, warum die Menschen mal so, mal so sind. Sie sagte: “Ein Hals, aus dem die Stimme rauskommt, hat vierzig Etagen. Wenn man was sagen will, muß man erst vierzig mal schlucken und dann sprechen, manche Leute sprechen, ohne zu schlucken, dann steht in der Mitte eine Hand voller Scheiße. 29 Sie erfährt, dass eine gute (d.h. zuverlässige) Kommunikation nicht evident ist: eben weil sie selbst so ehrlich ist, kommt sie bald zu einer Erkenntnis der Unehrlichkeit anderer Leute. Handeln und reden stimmen für sie nicht mehr ohne weiteres überein: Ich merkte, daß dieses Tamam mı-Tamam 30 zwischen mir und Ali immer klappte, aber zwischen den anderen Menschen nicht immer klappte. Es hatte auch zwischen Mehmet Ali Bey und seiner Frau, Tante Müzeyyen, gut geklappt, aber die Menschen sagten entweder tamam tamam und hielten ihr Jawort nicht, oder sie sagten kein Tamam. 31 Die Erzählerin registriert die zahlreichen Modifizierungen und Konnotationen des objektiven Sprachgebrauchs. Je mehr Kontakt sie mit den Erwachsenen hat, desto mehr parodiert sie die figürlichen Äußerungen. So sagt sie, wenn sie Tante Sidika erwähnt, immer zu ihren Namen “der es ein bißchen Schwiegereltern besser leben ging als muß” 32 einem dazu. Sie Schwiegersohn, verursacht der eigentlich bei seinen eine Art Verfremdung gegenüber alten, festen Strukturen in der Sprache. Die IchFigur erwirbt den figürlichen Sprachgebrauch allmählich im Aufwachsen, während sie am Anfang des Buches noch alles wortwörtlich interpretierte. 28 Özdamar, Karawanserei. S. 63. Ibid., S. 69. 30 Ibid., S. 184. “tamam mı” bedeutet: “einverstanden?” “tamam” bedeutet: “einverstanden”. 31 Ibid., S. 208. 32 Ibid., S. 170, 191, 193. 29 12 Sie eignet sich die fremden Strukturen der Sprache letztendlich völlig zu. Ihre Identitätsentwicklung zeigt dem Leser eine hohe Empfindsamkeit für den metaphorischen Sprachgebrauch. Je älter sie wird, desto mehr benutzt sie eine kreative, figürliche Sprache: Mein Vater sprach zu dem Stuhl: “Wenn du gesund bist, bringe ich dir Pokern bei.” Ich hing mich an das Wort Pokern, als ob es ein über mir hängendes dickes Seil wäre und ich zog mich an diesem Seil hoch und setzte mich zwischen die ungeöffneten Möbelpakete und schlief dort ein. 33 Es ist deutlich, dass die Identitätsentwicklung der Ich-Erzählerin sehr stark mit dem Sprachgebrauch verbunden ist. Die Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem ist für sie von größter Wichtigkeit: sie entdeckt, dass sie mit ihrer ‘naiven’ (ehrlichen, wortwörtlichen) Sprache in der Erwachsenenwelt nicht unbedingt das gewünschte Ziel erreicht. Ihre Liebesgeschichte mit einem Musikanten zeigt dann wiederum, wie sogar der figürliche Sprachgebrauch und die ‘Liebespantomime’ zu einer schmerzlichen (aber trotzdem auch lustigen) Situation führen. Sie benutzt die alte konventionelle Gebärde, um ihre Gefühle zu zeigen, aber das wird vom jungen Sedat falsch verstanden. Das Mädchen lernt immer mehr dazu, indem sie nach und nach entdeckt, wie viele (Un)Möglichkeiten es auf dem Kontinuum zwischen konkretem und abstraktem Sprachgebrauch gibt: Ich brachte mein Taschentuch an meine Stirn, was bedeuten sollte: Ich brenne, wann wird dieses Feuer gelöscht werden, ach, ich will auch nicht, daß dieses Feuer gelöscht wird. Plötzlich sagte ich laut: “Ach, ich will auch nicht, daß dieses Feuer gelöscht wird.” “Bitte, was hast du gesagt?” Ich sagte irgendwas. 34 Ihre besondere Empfindsamkeit sorgt aber dafür, dass sie die ‘gelogene Welt’ 35 nicht ohne weiteres akzeptieren kann. Sie wird sogar depressiv und muss einige Zeit in der Psychiatrie verbringen, nachdem sie einen Selbstmordversuch gemacht hat. Die Pubertät versetzt sie in Angst, sie wird paranoide, nervenkrank und melancholisch. So wird sie in ein Militärkrankenhaus in Ankara aufgenommen, weil sie eine “Überfunktion der Schilddrüse” 36 hat, was bedeutet, dass sie ein hormonales Übermaß hat, ein typisches Phänomen der Pubertät. Sie redet jetzt mit ihrem Körper, die Hormonen haben ihre Ratio zerstört. Die komische Szene mit dem 33 Özdamar, Karawanserei. S. 314. Ibid., S. 336. 35 Ibid., S. 157. 36 Ibid., S. 350. 34 13 Psychologen nämlich zeigt uns versucht, eine ihre eigenartige körperliche ‘Einfühlungsmethode’: Sprache mit einem er hat ähnlichen körperlichen Benehmen zu beantworten. Mit einer Lampe schaute er sich meine Augen, meine Ohren an, er legte sein eines Ohr auf meine Brust. Dann guckte er mich lange an. “Was haben sie?” Ich wußte es nicht. Ich sprach nicht. Die Stühle schwiegen. Plötzlich biß der Psychologe in meine Unterlippe. Ich stand auf, er stand auch auf, mit meiner Unterlippe. Ich lief zur Tür, er setzte sich auf den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, sagte: “Ihr Problem kommt vom Jungsein.” 37 Ihre Pubertät führt also zur Sprachlosigkeit und Sprachskepsis: die Ich-Erzählerin kann zum ersten Mal in ihrem Leben nicht mehr ausdrücken, was sie fühlt. Die spitzfindige Kategorisierung von unterschiedlichen Geisteskrankheiten, wie u.a. “leise und laute Melancholie” 38, deutet auf die Verknüpfung von Sprache und Krankheit. Die laute Melancholie ist zum Beispiel eine Äußerung der Überforderung durch die soziale Umgebung. Sowie das junge Mädchen einst einige Formeln öfters wiederholt hat (zum Beispiel die Erfahrungen Gebete, aus die ihrem Hinzufügung Alltagsleben zu zu ‘Tante ordnen, Sidika’), so um die brauchen die Geisteskranken jene formelhaften Aussagen auch, um ihre Erfahrungen zu strukturieren. Es sind ja vor allem Soldaten und andere Militären die da zusammen vielleicht sind; noch sie mehr brauchen als die manche Wiederholungen Ich-Erzählerin, um der und Toten Formeln oder der schockierenden Ereignisse einen Platz in ihrem Leben zu geben. Das obsessiv-kompulsive Benehmen der kranken “Militärparade” 39 liegt gewissermaßen in einer Linie mit der Wiederholung von Gebeten und sonstigen aberglaubischen Ritualen der jungen Ich-Erzählerin; obgleich die Geisteskranken meiner Meinung nach nicht mehr dazu im Stande sind, sich von den Toten zu distanzieren: sie sind schon im Diesseits mit ihren Gedanken. Die Ich-Erzählerin hat öfters ‘ihre’ Toten vergessen, sobald sie zur Ruhe gekommen war und friedsam einschlafen könnte. Sie ist immer mit der Vergangenheit fertig gekommen, weil es für sie noch eine Zukunft gibt. Erst im Krankenhaus bemerkt sie, dass viele Leute viel ernsthaftere Probleme haben als sie: sie kommen mit der Vergangenheit nicht fertig, 37 Özdamar, Karawanserei. S. 356. Ibid., S. 356. 39 Ibid., S. 355 38 14 denn es gibt für sie zu viel Leid und gar keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft mehr. Die Wiederholung von Gedanken und Ritualen führt bei den Geisteskranken nicht mehr zur Kenntnis, wie es früher in der Kindheit der Erzählerin war. Wohl im Gegenteil: die Leute reden nur durcheinander und sie verstehen sich nicht mehr. Die Worten von zwei Kranken, dem Kapitän und dem Unteroffizier, stießen immer zusammen und bilden eine Art Mischformel, die den Leser vielleicht an die damalige Mischsprache aus den Gebeten der Ich-Erzählerin erinnern könnte. Der redende Unteroffizier und der Kapitän wohnten in einem Zimmer. Ihre Sätze mischten sich miteinander. “Ich will schweigen, heute schweigen/ Die Wäsche wurde doch sauber/Schweigen ohne traurig zu werden/Erst den Rücken des Hemdes bügeln/Ein Vogel kam aus dem Himmel herunter/Ein Winterhemd braucht acht Minuten/Das ist das Schweigen, das du im Himmel siehst/Ein Sommerhemd braucht fünf Minuten.” Die dichterische wortwörtlichen Sprache wird Sprachgebrauch hier also mit dem gemischt, ohne dass die pragmatischen, Synthese einen Sinn enthält. Die verworrenen Stimmen der Geisteskranken sind vielleicht Anlass dafür, dass die Erzählerin sich von der Türkei verabschieden will. Sie versteht als ‘Zigeunerin’ die Menschen in ihrer Umgebung nicht mehr. Ihre Zigeunermentalität, über die ich im Kapittel über die Raumdarstellung noch sprechen werde, hindert sie daran, die bürgerlichen Leute, sowie die Soldaten und sonstige Leute mit einem autoritären Charakter, zu verstehen. Sie ist wie Karagöz im unterstehenden Zitat: Mutter sagte: “Diese Männer im Schattenspiel heißen auch Karagöz und Hacivat. Karagöz ist ein Zigeuner oder Bauer, Hacivat ist ein Stadtmann, Lehrer vielleicht, und sie sprechen und verstehen sich immer falsch. Dann lachen die Menschen. Im Schattenspiel gibt es Juden, Griechen, Armenier, Halbstarke, Nutten, jeder spricht einen anderen Dialekt, jeder ist ein anderes Musikinstrument, redet nach seiner eigenen Zunge und versteht die anderen nicht, jeder macht an sich tın tın tın. Das ist unser Land”, sagte sie, “ wir sin dein an Menschen reiches Land, aber ein armes Land.” 40 Die absurde Steigerung der Realität im Militärkrankenhaus konfrontiert sie mit der eigenen Unvollkommenheit; sie will in Zukunft die bekannten Formeln und Geschichten aus ihrem Leben auch nicht ad absurdum wiederholen. Die benutzte Sprache soll immer zur Kenntnis über die Welt beitragen und zum Verstehen des Ichs oder des Anderen. Sie kennt jedoch sich selbst und die anderen nicht mehr. Sie kennt ja alle Register der 40 Özdamar: Karawanserei. S. 157 15 türkischen Sprache, und soll auf die Suche nach einer verfremdenden Sprache gehen, um ihr die Augen noch weiter zu öffnen. Die Sehnsucht nach einer anderen, “Brechtschen” Sprache, kommt hier zum Ausdruck. Erst nachdem sie dann fünf Monaten geschwiegen hat, kommt sie zur Entscheidung: sie wird nach Deutschland gehen. Die Sprachskepsis hat sich gelöst, weil sie letztendlich einsieht, dass es immer noch eine Fluchtmöglichkeit gibt: jede Umgebung hat zwei Türen; wenn man in der eigenen Umgebung nicht ruhig leben kann, kann man abhauen. Der Titel ist in dem Sinne Möglichkeit, eine sich Verweisung von der auf bekannten das Ende des Umgebung Buches, auf loszureißen. die Meiner Meinung nach schreibt die Ich-Erzählerin auch deswegen über das Holzhaus der “Tante” Pakize, einer Prostituierten: Tante Pakize wohnte im Zigeunerviertel, und ihr Holzhaus hatte zwei Türen, weil sie eine Hure war. Wenn die Polizei durch eine Tür kam, konnte sie durch die zweite Tür abhauen. 41 Ihr Verlangen, wie eine Hure zu sein, könnte man interpretieren als das Verlangen, auf einmal abhauen zu können. Die Aussage der Mutter, dass ihre Tochter eine ‘Mundhure’ ist, ist in dem Sinne auch nicht bedeutungslos: es könnte auf die Zukunft verweisen, in der das Mädchen tatsächlich die zweite Tür benutzen werde: Meine Mutter lachte und sagte: “Es gibt sieben Arten Hurerei in dieser Welt.” Ich wäre eine Mundhure, die mit der Zunge Hure ist. OROSPU. Das Wort Orospu gefiel mir. 42 Ihre dichterischen, literarischen Qualitäten (oder, nach der Mutter, ihre “Hurerei”) geben ihr die Möglichkeit, die zweite Tür zu öffnen. Die Fluchtmöglichkeit ist also am wichtigsten: man sollte immer das Gefühl haben, dass man frei ist und ohne die Drohung von autoritären Mächten leben kann. Sie geht ironisch genug auch mit dem Hurenzug nach Deutschland. So könnte man konkludieren, dass sie mit dem Soldatenzug zur männlichen, patriarchalen Welt gebracht wurde und mit dem Hurenzug aus der männlichen Welt weggezogen ist, auf dem Wege nach totaler Emanzipation und Freiheit. 41 42 Özdamar: Karawanserei. S. 374. Ibid., S. 117. 16 4. Der auktoriale Erzähler in der Tochter des Schmieds: die Idealisierung vom Eigenen. Özdogan hat das Fremde vor allem als “Resonanzboden des Eigenen” 43 betrachtet, einen Modus, der Ortfried Schäffter in seiner Studie über das Fremde beschrieben hat. Özdogan ist in Deutschland geboren und aufgewachsen; die Tochter des Schmieds ist übrigens sein erstes Buch, das von der Türkei handelt. Er wollte, dass sein Publikum sich mit der deutschtürkischen Bevölkerung identifizieren könnte. Vor allem die Jugendlichen, die die Migration selbst nicht mehr erlebt haben, sollen die Tochter des Schmieds einmal lesen, um die Eltern und somit auch sich selbst besser zu verstehen. Das Fremde ist für diese Minorität ja “das Ursprüngliche, ohne das die Eigenheit nicht möglich wäre, zu der sie jedoch im Verlauf einer Identitätsentwicklung in Distanz treten muß” 44, so behauptet Schäffter. Das Fremde ist für Özdogan im Wesen die “Entdeckung und Wiedergewinnung des eigenen Ursprungs” 45. Die deutsch-türkische Bevölkerung soll somit das “Spannungsverhältnis zwischen Abhängigkeit und emanzipatorischer Bewegung” 46 aus dieser Geschichte mitbekommen, so bin ich der Meinung. Özdogan hat seinen Lesern zeigen wollen, dass die türkische MigrantInnen auch einst ihre eigene Identität hatten, und das jene Identität heute zwar von den Deutschen und den jüngeren deutsch-türkischen Generationen, die in Deutschland aufgewachsen sind, manchmal als ‘fremd’ betrachtet wird, aber trotzdem auch zur Eigenheit der deutsch-türkischen Bevölkerung geführt hat. Einfühlung, Sympathie und empathisches Verstehen bleiben voraussetzungsvolle Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit. 47 damit weiterhin Das Zitat ist meiner Meinung nach sehr gut anwendbar auf die erzählerische Vermittlung im Buch von Özdogan. Der Schriftsteller hat sowohl das deutsche Lesepublikum, als auch die deutsch-türkischen 43 Schäffter: “Modi des Fremderlebens.” S. 16. Ibid., S. 16. 45 Ibid., S. 18. 46 Ibid., S. 16. 47 Ibid., S. 17. 44 17 Jugendlichen zur Einfühlung und Empathie anspornen wollen. Dieser Zweck führt hier meiner Meinung nach zu einer weniger originellen Verarbeitung der gender-orientierten kollektiven Thematik. deutsch-türkischen Özdogan Geschichte hat die überbrücken Distanz wollen, zu der indem er erkennbare – manchmal sogar orientalistische – Strukturen auf die türkische Bevölkerung projiziert hat. Die Frau als unterworfenes Subjekt, der Mann als Held, die traditionelle Scheidung zwischen der Außen- und Innenwelt, die traditionelle Mutter- und Vaterrolle und andere bekannte Vorstellungen werden hier vor allem aus deutscher Perspektive betrachtet. Die westliche Orientierung des Schriftstellers steuert hier die Figuren, die die kollektiven Erinnerungen auch nach nicht westlichen zu “existentielle[n] einem Betrachtungsmustern “interkulturellen transkulturelle[n] umdeuten. Es 48 Verstehen” , Erfahrungen” 49. Die kommt basiert Geschichte auf ist so sehr von der männlichen Perspektive geprägt, dass man die beabsichtigte dokumentierende (künftigen) Schilderung MigrantInnen Einfühlungsgeschichte vielmehr erfährt. Einfühlungsgeschichten der von condition als Sheila Saliha eine Johnson humaine typisch hat Scheinhardt der türkischen deutsch-türkische zum Beispiel erwähnt, die deren “halbfiktionale[n] Fallstudien, in denen die Individualität der Subjekte in der wehmütigen Ähnlichkeit untergeht” 50, nicht zur Eigenständigkeit der deutsch-türkischen Literatur beigetragen haben, laut Johnson. Der auktoriale Erzähler in der Tochter des Schmieds erzählt die Geschichte einer anatolischen Familie, in der die weibliche Hauptfigur Gül ihre Identität zu entwickeln versucht. Es ist jedoch eine Tatsache, dass wir als Leser nicht oft das Gefühl bekommen, dass Gül eine rein weibliche Perspektive vertritt. So könnte man behaupten, dass Özdogans Erzählweise folgender Behauptung widerspricht: Durch weibliche Fokalisierunginstanzen und eine dem weiblichen Blick entsprechende Perspektivenführung, mit der eine identifikatorische Schilderung von Frauenschicksalen einhergeht, werden weibliches Erleben und weibliche Wirklichkeitserfahrung aufgewertet: Die Leserin sieht die Ereignisse in der erzählten Welt nicht dominant durch die Außensicht eines als überindividueller Normrepräsentant fungierenden männlichen Erzählers, sondern mit den Augen weiblicher PerspektiventrägerInnen. Die fiktionale Wirklichkeit erscheint als 48 Schäffter: “Modi des Fremderlebens.” S.18. Ibid. 50 Sheila Johnson: “Literatur von deutschschreibenden Autorinnen islamischer Herkunft.” S. 268. 49 18 weiblich erlebte Wirklichkeit, so dass durch die Bewusstseinsdarstellung einer im literarischen wie außerliterarischen Bereich häufig zu verzeichnenden Marginalisierung weiblicher Erlebniswelten entgegengewirkt und weibliche Subjektivität mit ihren besonderen Erfahrungen und Bedürfnissen in den Vordergrund gerückt wird. 51 Özdogan ist ja ein männlicher Erzähler, aber er hat vor allem versucht, jene “identifikatorische Schilderung von Frauenschicksalen” wiederzugeben. Wir, Leser, sollten uns also möglichst gut in der Situation der weiblichen Hauptfigur Gül einleben können. Trotz seines Versuchs ist es ihm aber nicht gelungen, die Weiblichkeit zu ‘subjektivieren’, sowie es im Zitat steht. Die Frauen in seinem Roman sind weniger subjektiv und dynamisch als der Schmied geschildert, Abhängigkeit von sie bekommen Männern. Meiner also nur Meinung Bedeutung nach ist durch die ihre spezifische weibliche Wirklichkeitserfahrung in den Hintergrund gestellt worden, eben weil der Schmied die zentrale Stelle im Buch einnimmt. Der Plot handelt vor allem über die Lebensgeschichte von Gül, aber sie dreht sich wie ein Satellit um den Schmied, so dass er immer im Mittelpunkt der Geschichte stehen bleibt. Der Titel – die Tochter des Schmieds – verrät eine Art Werturteil, indem er gleich zwei Identitäten miteinander verbindet. Der Genitiv drückt somit die Abhängigkeitslage der weiblichen Hauptfigur aus. Die familiäre Identität der Tochter wird in einem Atemzug mit der sozio-kulturellen Identität des Schmieds erwähnt. ‘Der Schmied’ ist mit einem symbolischen Status versehen, während ‘die Tochter’ nur auf die spezifische Rolle innerhalb die Familie hinweist. Die Hauptfigur wird im Titel so dargestellt, als ob ihre Existenz (und auch ihre Handlungen durch die ganze Geschichte) völlig vom sonderbaren Status des Schmieds abhängig wäre(n). Hätte da zum Beispiel “die Tochter eines Assistenten vom arbeitslosen Baumeister” 52 gestanden, dann wäre das Werturteil ganz anders gewesen. ‘Der Schmied’ ist in dem Sinne eine konnotierte Benennung: die familiäre Geschichte (und mehr spezifisch die Geschichte von Gül) ist durch den beruflichen Status des Schmieds geprägt. Sein sozio-kultureller Status impliziert Geborgenheit, Sicherheit, Ansehen, Wohlstand und eine gewisse Abhängigkeit. 51 Allrath und Surkamp: “Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung.” S. 170. 52 Özdamar: Karawanserei. S. 63 19 Obwohl man das Gefühl bekommt, Özdogan habe dem Schmied mit Absicht sowohl weibliche als auch männliche Eigenschaften beigemessen, um die Gender-Stereotypisierung zu vermeiden, mutet diese Figur sehr (männlich) idealisiert und stereotypisiert an: der Schmied verkörpert den balancierten, unkomplizierten und zugleich empfindsamen Menschen. Der Erzähler lässt trotz des beabsichtigten Gleichgewichts keine Gelegenheit aus, um die Männlichkeit des Schmieds zu unterstreichen. Schon der erste Satz des Buches spielt auf den Stolz des Schmieds an: - Mach meinen Mann nicht zum Mörder, habe ich [Fatma, seine Frau] ihm gesagt, halt an, mach meinen Mann nicht zum Mörder. Halt an, und laß mich raus, und dann verpiß dich, so schnell du kannst. Timur atmet hörbar aus und wendet seinen Kopf ab, damit Fatma nicht sieht, wie seine Augen feucht werden. 53 Der Vorausblick auf den Moment, in dem ein Fahrer die Frau von Timur zu entführen versucht, zeigt dem Leser unmittelbar, wie die Ehre als zentraler Aspekt in der Geschichte vorgeführt wird und in einem Atemzug auch mit der Empfindsamkeit von Timur verknüpft wird. Die Liebe für seine Frau macht Timur weich ums Herz, obgleich diese starke Gestalt nicht gezögert hätte, den Entführer mit bloßen Händen zu ermorden, falls es zu einem Treffen gekommen wäre. Die Betonung seiner ‘Schwäche’ (seine Augen werden Unzuverlässigkeit feucht) der sollte empathisch Erzählinstanz, weil wirken, jene führt immer jedoch wieder zur versucht, Timur als idealen Gatten zu schildern. Seine Schwächen sind in dem Sinne keine wirklichen Beschränkungen seiner Männlichkeit, sondern zeigen nur das ideale Gleichgewicht der Charaktereigenschaften. Die bedingungslose Liebe für seine Frau zeigt uns die Bereitwilligkeit und Verantwortlichkeit des idealen Gatten, um aus dieser Mußehe eine Tugend zu machen. Seine Mutter hat ihn zwar verheiraten wollen, als er noch nicht ganz dazu bereit war, aber nachher sieht er ein, dass seine Mutter die best mögliche Entscheidung getroffen hat. Timur zündete sich eine Zigarette an und lächelte. Vielleicht hatte sie keine Brüste, aber sie war schön. Sie war schön wie ein Stück vom Mond. Sie war schon, als wären da immer noch Sterne in seinen Haaren. 54 Die Erzählinstanz lässt nie nach, die charismatischen Eigenschaften von Timur ausführlich zu betonen. Timur ist nicht nur der ideale Gatte, 53 54 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 7. Ibid., S. 16 20 sondern auch ein Muster für seine soziale Umgebung, ein charismatischer, sympathischer Mann mit den Charakterzügen eines Leiters. Das Bett, das er für die eigene Hochzeitsnacht geschmiedet hat, ist “mittlerweile berühmt in der ganzen Stadt” 55. Fleißigkeit und Fertigkeit sind die Hauptmerkmale des Schmieds; auch wenn er reich ist, ist das nur so, weil er immer hart für sein Geld gearbeitet hat. Er wird schwitzen für sein Geld, er wird in der Gluthitze des Sommers schwitzen für das Geld, mit dem er sich ein Radio kaufen will. Es ist das einzige Radio in der Straße, und die Nachbarn versammeln sich beim Schmied, um den Stimmen aus diesem Gerät zu lauschen. 56 Der Schmied schließt dann letztendlich auch noch Lautsprecher an den Apparat an, so dass die ganze Nachbarschaft mithören kann. Das altruistische Benehmen ist kennzeichnend für den Schmied: er hat den Respekt verdient, sowie er auch sein Geld verdient hat. Es ist ihm sozusagen nicht wie Tugenden eine reife Frucht und (körperlichen) in den Schoß Fertigkeiten gefallen: führten seine zu einer (mentalen) perfekten Kombination von Respekt und Sympathie der anderen Leute. Sein Status ist so ansehnlich, weil man alles in allem sagen könnte, dass er ein idealer Gatte, Vater, Ernährer, Sohn, Nachbar, Kaufmann und Freund ist. Die Komplementarität von Mann und Frau wird hier auch exemplarisch dargestellt: Fatma und Timur sind das prototypische Beispiel eines sich perfekt ergänzenden Paares. Das sanfte Wesen von Fatma wird dem starken, Charakterzüge heroischen sind Charakter auf des Schmieds geschlechtsspezifische, entgegengesetzt. Die dualisierte und stereotypisierte Art und Weise beschrieben: Timur ist stolz, er steht in hohem Ansehen, hat keine Angst, ist impulsiv, manchmal verschwenderisch und störrisch, er will sich vor allem beweisen. Fatma ist lieb und geliebt, sie ist geduldig, sparsam und verständnisvoll. Der stolze bzw. liebe Charakter von Timur und Fatma wird jeweils von der soziokulturellen Umgebung auf ähnliche Art und Weise beantwortet: der Stolz führt zum Ansehen und sogar zum Neid, während die Liebenswürdigkeit zur Sympathie der Gemeinde führt. Timur und Fatma haben jedoch auch nicht-geschlechtsspezifischen Eigenschaften, die – wie ich oben erwähnt habe – das ideale Gleichgewicht 55 56 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 88. Ibid., S. 89 21 in den Vordergrund rücken. Zum Beispiel die Selbständigkeit von Fatma und die Sorgsamkeit von Timur sind keine gender-stereotypisierten Merkmale, für die Komplementarität sind sie aber von größter Wichtigkeit, weil sie als Tugenden im Familienkreis gelten: die Selbständigkeit von Fatma macht sie zur verantwortlichen Mutter, während die Sorgsamkeit von Timur ihn zum beliebten Vater macht. Nach dem Tod der Fatma werden dieses Gleichgewicht und die Komplementarität gründlich zerstört. Die neue Frau von Timur soll den Kontrast mit Fatma unterstreichen: sie wirkt unsympatisch und kümmert sich nicht so viel um die Kinder. So bestätigt Özdogan das Stereotyp der ‘bösen Stiefmutter’, die ihre eigenen Kinder denen der anderen Frau vorzieht. In einem Gespräch mit Güls Lehrerin werden die formelhaften Aussagen über Stiefmütter für wahr gehalten: - Das Mädchen, dessen Mutter stirbt, hält sich für eine Mutter, sagt man. Weißt du das? –Ja. Meistens glauben die Leute, daß Gül nicht zuhört, wenn die Worte der Ahnen in ihrer Gegenwart zitiert werden. Wer keine Mutter hat, hat auch keinen Vater. Stiefmütter geben verwässerten Ayran [Yoghurtgetränk] und die verbrannte Ecke des Brotes. Sie kennt diese Sprichwörter, die für sie alle das gleiche bedeuten: Sie muß auf ihre Schwestern achtgeben. 57 Während es in der Karawanserei hauptsächlich darum geht, die Volksweisheit wenigstens zu parodieren oder die Arbitrarität und Willkür von Sprichwörtern anzuzeigen, wird in der Tochter des Schmieds vor allem davon ausgegangen, dass in jenen Sprichwörtern ein wahrer Kern steckt. Die Sprichwörter sind meiner Meinung nach in der Karawanserei vielmehr ironisiert: sie sind keine wirkliche Richtschnur des Handelns, sondern zeigen öfters, wie Erwachsene ganz opportunistisch mit Formeln umgehen, wie sie mit anderen Worten diese figürlichen Sprüche manchmal ein bißchen ändern, um aus ihnen einen Vorteil zu ziehen. Özdogan hat aber vor allem den Wahrheitsanspruch betonen wollen: die orale Überlieferung von Volksweisheit führt zur Kenntnis über die Welt und kann zur Richtlinie des Handelns werden. Die Mutter von Timur (die Großmutter von Gül) wird auch sehr negativ beschrieben, woraus man schließen könnte, dass die Frauen in dieser Geschichte kaum Anspruch auf positive Bewertung machen (Fatma ist also 57 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 100. 22 die Ausnahme). Die antipathische Großmutter kümmert sich nur um ihren eigenen Sohn, in dem Moment, in dem er und Fatma krank sind. Deswegen stirbt die Frau des Schmieds letztendlich, weil bei ihr die Krankheit zu weit fortgeschritten war. Sowohl die Großmutter Zeliha als auch die neue Frau Arzu machen sich also der Pflichtverletzung schuldig. Der Erzähler verzichtet auf eine tiefgehende Motivierung des Benehmens der beiden Frauen. Nur ab und zu bekommen wir einige Gedanken, die zum Abbauen der negativen Vorurteile beitragen sollen. Vorher muß der Leser schon gedacht haben, dass Schwiegermütter und Stiefmütter in der Türkei zum größten Teil opportunistisch, hart und gefühllos sind. Özdogan hat ja vor allem die pragmatische Einstellung von Frauen in einer von Männern regierten Welt betonen wollen; zum Glück gibt es manchmal auch eine Betonung der emotionalen ‘Schwäche’ von Frauen: Arzu setzt sich ans Bett und streicht über Güls Stirn. Und weint. Sie weint nicht um das kranke Kind. Sie weint um sich selbst. Womit hat sie dieses Schicksal verdient? Was kann sie dafür, daß ihr erster Gemahl kein Mann war? Und ist es ihre Schuld, daß sie danach keiner mehr haben wollte? Was tut sie hier? Sie ist gerade neunzehn Jahre alt und muß sich auf einmal um diese drei Kinder kümmern. Drei Mädchen, die ihr völlig fremd sind, und ein Mann, der den Schmerz über den Tod seiner Frau noch lange nicht verwunden hat. 58 Hier wird also auf die Schwierigkeit einer Mußehe angespielt, so dass das deutsche Lesepublikum wenigstens verstehen kann, wieso Arzu sich nicht so leicht in die traditionelle Mutterrolle einfühlen kann. Die Erzählinstanz spart jedoch mit ihrem Lob, und öfters zeigen die Gedanken der Stiefmutter bwz. Großmutter eine Art Arroganz und Opportunismus auf. Der erste Ehemann von Arzu war impotent: gerade deswegen will Arzu mit ihrem zweiten Mann nicht mehr in einem schlechten Licht stehen. Özdogan lässt aber herausscheinen, dass Arzu ziemlich oberflächlich auf die soziale Druck der Umgebung reagiert. Sie denkt nicht wirklich für sich selbst, sondern lässt sich sehr stark von den Meinungen anderer Leute beeinflussen: - Wir wollen nicht zum Gespött der Leute werden, sagt ihre Mutter. Diesen Satz hat Gül schon sehr oft gehört. […]Arzu hat ihre Gründe, nicht zum Stadtgespräch werden zu wollen. Sie ist froh, daß langsam vergessen wird, was mit ihrem ersten Ehemann war. Froh, daß vielleicht irgendwann ganz vergessen sein wird, daß sie schon einmal verheiratet war. Wenn sich der Klatsch erst verbreitet hat, gibt es kaum noch ein Entkommen. Arzu möchte nicht auffallen, es sei denn dadurch, daß ihr Mann groß und stark ist und Geld hat. Es sei denn durch ein Kopftuch aus reiner 58 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 69. 23 Seide aus Bursa. Es soll schon über sie geredet werden, aber bewundernd und mit leisem Neid. 59 Der Gegensatz zur ersten Frau des Schmieds ist kaum verholen: Arzu will nur um des äußeren Scheins willen in hohem Ansehen stehen, während die Fatma gerade um ihr sanftes Wesen gerühmt wird und auf diese Art und Weise der Gemeinde Respekt abgewinnt. Die Großmutter wird genau so negativ beschrieben: die Erzählinstanz betont vom Anfang der Geschichte an schon ihre Habgier. Ihr unehrliches Benehmen verursacht sogar eine Vertrauensfrage bei ihrer Enkelin und ihrem Sohn. Sie beschuldigt Gül unberechtigt des Diebstahls, so dass ihr Sohn einsehen muß, dass er seiner eigenen Mutter nicht unbedingt vertrauen darf: Er kann nicht nur nicht beweisen, daß Gül es nicht war, sondern er kann auch seine Mutter nicht beschuldigen, gelogen zu haben.[…] Timur ist in die Hocke gegangen, starrt auf den Boden und murmelt vor sich hin. – Sogar ihre Enkelin…wahrscheinlich hat sie ihn verkauft…kaufen, verkaufen, kaufen, verkaufen…das bißchen Traubensaft… 60 Timur denkt also, dass seine Mutter den getrockneten Traubensaft verkauft hat und Gül nachher des Diebstahls beschuldigt hat. Die negative Beurteilung der patriarchalischen beiden Systems: Frauen passt die Eifersucht zur von Stereotypisierung Frauen auf andere des (nicht verwandte) Frauen wird in der Tochter des Schmieds öfters betont, sowie auch die schwierige Beziehung einer Frau zur Schwiegermutter. In der Karawanserei wird gerade dieses Stereotyp entkräftet, weil Ayse (die Großmutter) sich nicht sosehr mit ihrem Sohn beschäftigt, sondern vielmehr mit den weiblichen patriarchalischen Gestalten Beziehung zu zwischen tun hat. Die Mutter und Sohn, Darstellung der Schwiegermutter und Schwiegertochter wird durch die Geschichte von Özdogan aufrecht erhalten, während ihr in der Karawanserei mit der Auswanderung der IchFigur sogar ein Ende bereitet wird, weil die weibliche Hauptfigur sich überhaupt nicht in der Türkei verheiraten würde und deswegen auch nie die Tradition weitersetzen könnte. Die zyklische Tradition des weiblichen Autoritätserwerbs wird ganz deutlich durchbrochen. Sogar die Mutter der Ich-Figur aus der Karawanserei wird keineswegs von ihrer Schwiegermutter 59 60 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 105-106. Ibid., S. 82-83. 24 unterdrückt; im Gegensatz dazu wird der Großmutter öfters durch ihre Schwiegertochter der Kopf gewaschen. Als einige ‘Brautschauerinnen’ auf einmal vorbeikommen, um zu sehen, ob sie ihren Sohn mit der Hauptfigur verheiraten könnten, wird ganz klar, dass die Großmutter keine Macht oder Autorität mehr hat: Sie [die Mutter] sagte: “Arme Frauen, sie denken, der Bauunternehmer Mustafa ist ein reicher Mann.” Meine Großmutter sagte: “Warum hast du das Mädchen nicht gegeben. Sie haben wie gute Menschen ausgesehen. Die Zeit des Mädchens ist gekommen.” Mutter sagte: “Greisin, heirate du, wen du willst, meine Tochter wird in die Schule gehen.”Großmutter sagte: “Was habe ich denn gesagt, habe ich was Schlechtes gesagt?” Ich habe gesagt, die Zeit für das Mädchen ist gekommen.” 61 Die Großmutter spielt hier die gekränkte Unschuld, sie reagiert sogar sarkastisch auf die Mahnung ihrer Schwiegertochter. So schränkt sie gleich die Tragweite ihrer Worten ein, als ob man jene Worten nicht ernst nehmen sollte. Fatma und Ayse streiten sich zwar mehrmals, aber es ist allerdings vielmehr unschuldig und scherzhaft gemeint. Deniz Kandiyoti hat in seiner komparativen Untersuchung über den Islam und das Patriarchat, das klassische Patriarchat zu definieren versucht. Er geht auf die spezifische Beziehung zwischen Müttern und Söhnen bzw. Schwiegertöchtern ein: A woman’s life cycle in the patrilocally extended family is such that the deprivation and hardship she may experience as a young bride are eventually superseded by the control and authority she will have over her own daughters-in-law. The powerful postmenopausal matriarch thus is the other side of the coin of this form of patriarchy. The cyclical nature of women’s power and their anticipation of inheriting the authority of senior women encourages a thorough internalization of this form of patriarchy by the women themselves. Subordination to men is offset by the control older women have over younger women. Women have access to the only type of labor power they can control, and to old-age security, however, through their married sons. Since sons are a woman’s most critical resource, ensuring their lifelong loyalty is an enduring preoccupation. Older women have a vested interest in the suppression of romantic love between youngsters to keep the conjugal bond secondary and to claim their son’s primary allegiance. 62 In der Tochter des Schmieds gibt es die neutrale Wiedergabe eines klassischen Patriarchats, sowie es oben definiert wurde. Die Beziehung zwischen Zeliha (Großmutter) und Fatma ist prototypisch: Zeliha übt Kontrolle über ihre Schwiegertochter aus, weil sie die zyklische Tradition der patriarchalischen Autoritätsverhältnisse aufrecht erhalten will. Die 61 Özdamar: Karawanserei. S. 272. Deniz Kandiyoti: “Islam and Patriarchy”. In: Women in Middle Eastern History. Shifting Boundaries in Sex and Gender. Hrsg. von Nikki R. Keddie und Beth Baron. New Haven, London: Yale University Press. 1991. S. 23-42, hier S.32-33. 62 25 Erzählinstanz berichtet ganz Zeliha und Prügelszene ihrem im Sohn neutral über das Machtsverhältnis bzw. untenstehenden ihrer Zitat Schwiegertochter. zeigt uns, wie zwischen Die kindische die auktoriale Erzählinstanz alles ziemlich rudimentär darstellt, als ob das Patriarchat nur mit Macht, Kontrolle und Körperstrafen zu tun hat. Meiner Meinung nach wird das Verhältnis Schwiegermutter – Schwiegertochter zu einem obligatorischen Machtsspiel reduziert, auch wenn es in dem Patriarchat vor allem um Ehrlichkeit und Respekt geht, nach meiner Meinung. - Hör mal, sagte er eines Abends zu Fatma, hör mal, ich glaube, ich weiß, was wir tun können. Das nächste Mal, wenn meine Mutter sich beschwert, dann ziehe ich dich hier ins Zimmer, und ich schlage auf die Sitzkissen und brülle ein wenig herum, und du schreist auf wie vor Schmerz, dann gehe ich raus, und du bleibst noch ein wenig drinnen. […] Timur erzählte seinen Freunden begeistert von diesem Trick, und sie lachten gemeinsam, stießen an und tranken. Und als der Herbst zu Ende ging, wußte es die ganze Stadt. 63 Die scheinbare Spitzfindigkeit des Tricks von Timur zeigt uns indirekt, dass die Erzählinstanz davon ausgeht, dass Timur wohl der einzige gewesen wäre, der sich auf kluge Art und Weise den altmodischen Gebräuchen der älteren Generation zuwidergesetzt hat. Timur wird als normwidriger Held, als burschenhafter Rebell gezeichnet, der das Machtsspiel seiner Mutter mit einem ebenso fragwürdigen Spiel beantwortet, und somit die Tradition von Körperstrafen bestätigt, statt sie zu verwerfen. Es wird nicht auf die Frage eingegangen, ob zum Beispiel seine Freunde das Prügeln auch missbilligen. Die Erzählinstanz will vielmehr die Homogenität der ganzen Gesellschaft betonen, in der es auffällt, wenn jemand aus der Reihe tanzt, denn sonst hätte die Gemeinde doch überhaupt kein Interesse an dieser ‘unerhörten Begebenheit’ gezeigt. In der Tochter des Schmieds ist Timur nicht so sehr der Beweis dafür, dass der Patriarchat allmählich an Einfluss einbüßt, weil er eher eine Ausnahme ist, die die Regel bestätigt. Seinen sonderbaren Charakter kann man ebenfalls nicht als bewusst emanzipiert bezeichnen, denn sein Zaubertrick ist eine phantastische, heuchlerische Flucht aus der Wirklichkeit: die Wurzel des Problems wird durch das inszenierte Prügeln nicht angefasst, Timur vermeidet nur eine Konfrontation mit seiner Mutter. Der auktoriale Erzähler gibt nie ein Urteil, Kritik an der Gesellschaft wird nur indirekt in den Gedanken der Figuren wiedergegeben. Meiner 63 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 19. 26 Meinung sieht die Geschichte den Einfühlungsgeschichten auch so ähnlich aus: die Erzählinstanz will nur zeigen, wie es gewesen ist. Die traditionelle Gesellschaft geschildert, wird in Homogenität Gedächtnis als der der monolithische jede Normwidrigkeit türkischen hinzu: Einheit direkt Gesellschaft Eindeutigkeit, von Normen ins passt Kontinuität, Auge besser und Werten springt. im Die kollektiven Tradition usw. sind Komponenten die die Einfühlung fördern, so dass das deutsche Publikum den Ursprung des deutsch-türkischen Verhältnisses besser verstehen kann. Der Lebenslauf von Gül ist sehr charakteristisch für die Beständigkeit des patriarchalischen Systems. Es wird von Anfang an schon deutlich, dass Gül die traditionelle Mutterrolle übernehmen wird. Meiner Meinung nach ist Gül auch deswegen der Liebling ihres Vaters: sie ist bereit, ihr eigenes Leben für die Familie zu opfern. Sie ist das Prototyp der sorgsamen, schlichten Frau, die mit ihrem Schicksal zufrieden ist und die sich den Umständen ziemlich passiv anpasst, ohne sich zu fragen, ob es überhaupt noch andere Möglichkeiten im Leben gäbe. Man könnte sie flexibel nennen, aber dann ist diese Flexibilität nicht sosehr als aktive Anpassungsfähigkeit zu verstehen, wie es in der Karawanserei der Fall war. Gül ist überhaupt nicht kritisch, sie tut nur so, was von ihr erwartet wird. So wird allmählich deutlich, dass Gül sich nur konformiert, während die IchErzählerin in der Karawanserei durch ihre Anpassungsfähigkeit eine weitgehende Emanzipation erreicht. Gül wird denn auch letztendlich ins patriarchalische System eingereiht: ihre Schwiegermutter Berrin bekommt die Macht über sie, bis sie mit ihrem Mann Fuat nach Deutschland zieht, um nie wieder in die Türkei zurückzukehren. Im Gegensatz zur Hauptfigur in der Karawanserei stellt sich aber heraus, dass Gül und Fuat, wie manche Gastarbeiter in Deutschland, nur schnell Geld verdienen wollten und schließlich in Deutschland geblieben sind, weil ihre Kinder da ein Leben aufgebaut hatten. Es gibt eine Art missbilligenden Hauptton, dadurch dass der Erzähler verstehen lässt, dass es nie der Wunsch von Gül war, aus der Türkei auszureisen. Vielmehr scheint er uns zu sagen, dass die Männer ihre Frauen aus den geschlossenen Familienkreis gezogen haben, um des Kapitalismus willen. Es wird hier stark verallgemeinernd über die Zukunft 27 von Gül und Fuat in Deutschland geschrieben, mit einem ganz sachlichen und nüchternen Schreibstil. Man könnte aus dem unten zitierten Absatz konkludieren, dass die Entwicklung für die meisten Gastarbeiter ähnlich ausgesehen haben wird. Es soll nur für ein Jahr sein, ein weiteres Jahr, in dem sie zu zweit Geld verdienen wollen. Die Ersparnisse würden noch nicht reichen, hat Fuat gesagt, als er im Sommer da war. Sie werden sehr lange nicht reichen, jahrelang, und wenn er schließlich ein eigenes Haus hat bauen lassen, eins mit europäischen Toiletten, mit Wannenbad und Heizung, mitten in der Stadt, in der er aufgewachsen ist, werden sie fast vergessen haben, daß sie zurückkehren wollten in die Türkei. Längst werden sie ihre Töchter nachgeholt haben, die in Deutschland aufwachsen, dort zur Schule gehen, heiraten und Kinder kriegen werden. Sie werden ihre Rückkehr immer wieder so lange in eine unbestimmte Zukunft verschoben haben, bis sie selbst nicht mehr daran glauben, bis sie sich schließlich eingestehen, daß sie wahrscheinlich für immer in Deutschland bleiben werden, bei ihren Kindern und Enkeln. 64 Die unbewogene, fast unpersönliche Beschreibung des Handels und Wandels von Fuat und Gül könnte man auf die spezifische Lage von türkischen Einwanderer erweitern: alle haben einst in die Heimat zurückkehren wollen, aber viele sind in Deutschland geblieben, weil sie und ihre Kinder sich da inzwischen an die Fremde gewöhnt haben. Es scheint jedoch mehr eine zwangsläufige Dynamik zu sein, als eine ganz freiwillige Entscheidung. Die passive Anpassungsfähigkeit von Gül, über die ich schon geredet habe, passt ja gut zu dieser zwangsläufigen Situation: es ist ihr alles nur so passiert, ohne dass sie es wirklich so wollte. Der Erzähler ist weiterhin – wie ich oben schon erwähnte - sehr sparsam mit Kommentaren: wir bekommen welchen fast nur durch Güls Gedanken mit. Sie tadelt zum Beispiel oft ihre Stiefmutter und wird sogar ihre Großmutter böse, aber trotzdem bekommen wir als Leser nicht oft das Gefühl, dass sie ein Mensch von Fleisch und Blut ist, weil ihre Handlungen vor allem eine Art Evozierung von Tugenden und Verantwortlichkeit sind. Der Erzähler hat vor allem betont, wie sie unter allen Umständen ihr sauberes, beruhigendes Wesen bewahrt hat. Sie ist eigentlich genauso balanciert wie der Schmied, und das mutet vielleicht ein Bißchen unwirklich an. Auch wenn ihre Mutter stirbt, denkt sie nicht gleich an sich selbst, sondern an den Vater: sie antizipiert die gewaltige Reaktion ihres Vaters und versucht, sein impulsives Handeln zu dämpfen: 64 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 303. 28 Gül lief ganz schnell in die Küche, nahm einen Löffel und lief dann zurück Zimmer, im Vorbeilaufen hörte sie, wie ihre Tante weinte. Sie gab ihrem Vater Löffel, und im gleichen Moment hörte sie den Türklopfer. Gül sagte: - Mama ist Einen winzigen Moment verharrte Timur regungslos, dann schleuderte er Löffel, den er in der Hand hielt, mit voller Wucht gegen die Wand. Es bröckelte wenig Putz ab. 65 ins den tot. den ein Das ist eine unheimlich verantwortliche, ausgewogene Reaktion auf die herzzerreißende Nachricht, dass ihre Mutter gestorben ist. Hier wollte der Erzähler dem Leser also klar machen, dass die Beziehung zwischen Vater und Tochter auf Komplementarität beruht. Die Tochter des Schmieds ist, wie ihre Mutter Fatma, eine Ergänzung für den männlichen, manchmal impulsiven Charakter des Schmieds. Das altruistische Benehmen des Mädchens ist übrigens grenzenlos, es beschränkt sich nicht auf den Vater: nie macht sie etwas für sich selbst, ihre Handlungen stehen immer im Zeichen ihrer Familie. So übernimmt sie also nach dem Tod ihrer Mutter gleich die Mutterrolle, als ob es ganz selbstverständlich sei. Menschen laufen hin und her, Gül weiß nicht, wo Melike und Sibel sind, sie sieht Tante Hülya und Onkel Yücel, sie sieht Nachbarn und auch Menschen, die sie noch nie vorher gesehen hat. Sie hat aufgehört zu weinen und denkt: Ich muß ein großes Mädchen sein, ich muß auf Melike und Sibel achtgeben. 66 Die Erzählinstanz hat sich außerdem sehr darum bemüht, die Kontraste mit den jüngeren Schwestern von Gül zu betonen. Sie ist als Hauptfigur sehr positiv beschrieben worden und ist als älteste Tochter gewiss auch die meist Verantwortungsvolle. Im Gegensatz zum nicht vorhersagbaren Charakter ihrer Schwester, reagiert sie immer konsequent und schwindet ihre Verantwortlichkeit niemals. Auch wenn die Töchter zusammen in der Schmiede sitzen, sind die Unterschiede ganz deutlich: Melike ist sehr opportunistisch und sogar verschwenderisch, im Gegensatz zu Gül: […] und manchmal kommt genau in diesem Moment Melike reingestürmt, als hätte sie von einem Versteck aus zugesehen und gewartet, bis es Essen gibt. Sobald sie satt ist, verschwindet Melike wieder und Gül betätigt den Blasebalg, wofür ihr Vater ihr manchmal ein paar Kuruş gibt. Nachdem der erste Schnee gefallen ist, verbringt auch Melike ihre Mittagspausen in der Schmiede, müht sich sogar mit dem Blasebalg, um ebenfalls einige Kuruş zu bekommen, mit denen sie sofort beim Krämer Süßigkeiten oder Knabberzeug kauft. Weil Gül ihr Geld in einem Versteck aufbewahrt, anstatt es auszugeben, wird sie oft von Melike angebettelt […]. 67 65 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 57. Ibid., S. 59. 67 Ibid., S. 84. 66 29 Gül ist also tatsächlich in allem ein Muster der Tugend; ihre Schwestern hingegen sind mehr egoistisch und rechnen weniger mit anderen Leuten. Der Erzähler schildert das Verhalten von Gül so idealistisch und kontrastiv, weil er meiner Meinung nach vor allem die ganz besonderen Qualitäten der Lieblingstochter unterstreichen will. Es muss dem Leser deutlich werden, weshalb sie und ihr Vater so eine enge Beziehung haben und wieso das Buch die Tochter des Schmieds heißt und nicht die Töchter des Schmieds. Die extrem positive Aufwertung von Gül enthält jedoch auch eine Falle: es ist, als ob der Erzähler tatsächlich sein Werturteil über das passive Benehmen von Gül ausgesprochen hat. Der Leser bekommt das Gefühl, dass der anspruchslose Lebensstil von Gül in der Türkei noch immer mehr Respekt abzwingen wird, als eine relativ emanzipierte Haltung von Frauen. Die Lieblingstochter des Schmieds ist ja zugleich auch die meist folgsame, die meist sittliche. Der Erzähler beschreibt ganz nüchtern, ganz sachlich, wie Gül ihr unglückliches Schicksal erleiden muss. Nur die letzten zwei Seiten der Erzählung springen ganz direkt ins Auge, weil sie zum ersten Mal undoppeldeutig angeben, wie Gül nach dem Ende ihres Lebens verlangt. Vorher ist sie eben nicht dazu im Stande, jemandem die Faust zu zeigen. Auch wenn Gül eine unglückliche Ehe führt, wird fast nie darüber gesprochen, wie schwer das alles für Gül gewesen sein muss. Sie selbst redet fast nie darüber, weil sie nicht so egoistisch sein will. Gül erzählt nicht viel an diesen zwei, drei Tagen auf der Truhe, sie erwähnt, daß Fuat nicht mehr spielt, sie erzählt, wie Ceyda gezahnt hat, wie sie Durchfall hatte, sie erzählt, wie sie selbst in den Brunnen gefallen ist. Doch sie behält für sich, wie schwer ihr das Leben mit Fuat fällt, auch wenn sie ihn lieben möchte. Wie laut er werden kann, wenn er getrunken hat, und wie er eingeschlafen ist, als sie gerade erzählte, wie sie sich mit seiner Mutter gestritten hat, wie sie das Gefühl nicht los wird, daß er ihr auch sonst nicht zuhört. Sie behält ihre Sorgen für sich, ihre Schwestern haben eigene, und die sind ihnen bestimmt genug. 68 Der große Gegensatz zu den unverholenen Gedanken von der Frauengemeinde in der Karawanserei ist bemerkenswert. Da wird in dem privaten Bereich ganz offen über die Familie und ins Besondere über die Männer geredet. “Wie geht es dir?” “Mir geht es gut.” “Wie geht es deinem Mann?” “Gut, er bringt jeden Tag seinen unheiligen Schwanz auf den Straßen spazieren.” “Wie geht es deiner Tochter?” “Gut, sie spaziert, mit ihrem Busen wackelnd.” […] “Wie geht es deiner anderen Tochter?” “Gut, sie kriegt unten viele Haare. Meiner Tochter habe 68 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 272. 30 ich gesagt, laß uns diese Haare abziehen, das ist Sünde, […]. “Wenn sie sich in der Hochzeitsnacht so ihrem Mann zeigt, wird er sagen, ich hab Makarios Bart geheiratet.” 69 Die Figuren in der Karawanserei reden also ohne Scham über das Alltagsleben und die viele kleine Details des privaten Lebens. Körperlichkeit und intime Gefühle werden von den Frauen mit einer Art Grobheit besprochen. Der auktoriale Erzähler in der Tochter des Schmieds redet dagegen ganz nüchtern und schüchtern: der Absatz oben zeugt von der Bescheidenheit und dem Altruismus von Gül. Ihr introvertierter Charakter ist vielleicht bewundernswert, denn sie wollte doch ihre Schwester nicht beunruhigen, aber trotzdem finde ich, dass ihre Schweigsamkeit gerade in diesem kleinen Familienkreis unwirklich anmutet. Weil der Erzähler auf die fundamentale Einsamkeit von Gül anspielen will, verbricht er mit Absicht das Bündnis zwischen den Schwestern. Gül schämt sich auf einmal vor ihren Schwestern und sie hört deswegen lieber zu, als das sie ihnen alles übers eigene Leben erzählen wollte. Der Erzähler lässt auch hier nicht nach, um sozusagen in einem Atemzug auch die Charme von Gül zu erwähnen: sie selbst schweigt lieber, aber es wird ihr nie zu viel sein, um anderen zuzuhören. “Und sie wird sich daran gewöhnen, daß die Menschen ihr vertrauen, ohne daß sie je verstehen wird, warum das so ist.” 70, so erwähnt die Erzählinstanz. Die Leser sollten andermal davon überzeugt werden, dass Gül sehr altruistisch ist; außerdem denke ich, dass in diesem Absatz die ‘passive Flexibilität’ von Gül angedeutet wird. Mit anderen Worten, es wird hier noch einmal angespielt auf den bescheidenen, demütigen Charakter von der Hauptfigur, auf ihre Biegsamkeit und ihre Fähigkeit, sich unter allen Umständen so gut wie möglich zu benehmen. Trotzdem bekam ich immer mehr das Gefühl, dass ihrem schlichten Charakter eine Art Idealisierung von alten Tugenden und zugleich auch eine Heroisierung von türkischen Frauen im unfreien System des traditionellen Patriarchats zu Grunde liegt. Frauen sind in diesem System eine wesentliche Ergänzung zu ihren ernährenden Männern; das Eheleben ist schwer für sie, aber sie fügen sich großherzig in ihr Schicksal, weil Komplementarität für sie am wichtigsten ist. 69 70 Özdamar: Karawanserei. S. 163. Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 278. 31 Der Charakter von Fuat ist aber nicht nur der Beweis für eine Art Komplementarität mit Gül, sondern ist ebenso eine Bestätigung des noblen Charakters des Schmiedes. Fuat wird besonders negativ geschildert, so dass man schon glauben muss, dass der Schmied wirklich eine Ausnahme ist, weil er für seine Frauen so ein guter Gatte war. Außerdem vermeidet die Erzählinstanz auf sturrische Art und Weise, zu beschreiben, weshalb Fuat sich so und so benimmt. Eben weil Fuat so eine statische Gestalt bleibt, können wir sein Benehmen nicht leicht begründen. Deshalb scheint es so, als ob Fuat ein sehr egoistischer, materialistischer und sogar bedauernswerter Mann ist. Gerade das Umgekehrte des Schmieds, mit anderen Worten. Fuat repräsentiert ja das ziemlich stereotypisierte Prototyp der neuen, jungen Generation, die in den fünfziger und sechziger Jahren nach Deutschland gezogen ist. Er ist ein Mann, der weiß, was es alles an Geld und Reichtum in der Welt gibt. Er kann es aber selbst nicht genießen und das frustriert. Deswegen würde er sich später auch entscheiden, nach Deutschland zu ziehen. Es ist, als ob der Erzähler hätte sagen wollen: sehen sie mal, diejenigen, die später nach Deutschland gezogen sind, waren nur vom materialistischen Westen geblendet worden. Sie wollten doch nur von der allgemeinen Verbesserung der Lebensumstände mitprofitieren. Zugleich aber wird Fuat weniger sympathisch als der Schmied dargestellt: Fuat will nicht “schwitzen für sein Geld” 71, er kennt nicht die richtige Balance zwischen Geld Verdienen und Geld Spenden, sowie der Schmied. Meiner Meinung nach gibt es in der Tochter des Schmieds keinen glaubwürdigen Erzähler, weil er manches selektiv verschweigt und manches überbetont. Ich habe in diesem Kapittel zeigen wollen, dass der Charakter von Gül und Timur gewissermaßen aufgebessert wurde, während die Stiefmutter Arzu, die Großmutter Zeliha, die Schwiegermutter Berrin und Güls Mann überwiegend negativ beschrieben wurden. Der saubere Charakter von Gül und ihrem Vater sind jeweils exemplarisch vorgeführt worden. Sie kennen noch die alten Tugenden; sie können noch schlicht leben und sind vor allem altruistisch. Die anderen Figuren weisen egoistische Charakterzüge auf, ohne dass es andere, positive Merkmale gibt, die zu 71 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 89. 32 einem Gleichgewicht Pflichtverletzung usw.: führen das könnten: sind Geldgier, alles Ehrgeiz, Merkmale, die Verschwendung, wir bei den Nebenfiguren bemerken konnten. Nur Gül und Timur haben ein ideales Gleichgewicht erreicht, daher bin ich der Meinung, dass es sich hier doch um eine gewisse Stereotypisierung von traditionellen Typen aus der alten türkischen Gesellschaft handelt. Die von klein auf verantwortliche Hausfrau und der stolze Schmied verkörpern so das traditionelle Alltagsleben, in dem die familiäre Geborgenheit am wichtigsten war und in dem die Gesellschaft noch nicht vom hemmungslosen Kapitalismus korrumpiert wurde. 5. Die Raumdarstellung in der Karawanserei: das Fremde als Zuhause In der gender-orientierten Erzähltextanalyse von Nünning und Nünning wird vor allem betont, dass die Komponenten einer literarischen Struktur in hohem Maße geschlechtsspezifisch sind. Das gilt also auch für die Raumdarstellung, denn, so behauptet Natascha Würzbach in der genderorientierten Erzähltextanalyse: Die narrative Raumdarstellung bietet sich für geschlechterrelevante Implikationen und Aussagen nicht zuletzt deshalb an, weil Raum als kulturelles Phänomen zum einen vielfältigen Semantisierungen unterworfen ist, zum anderen aber auch mimetisch auf die soziale Realität verweisen kann. […] Dabei sind es auch die verschiedenen Arten der Wahrnehmung, Beschreibung und Beurteilung von Räumen im Erzähltext, die geschlechterrelevante Orientierungen und Konnotationen zeigen. 72 [Hervorhebung im Text] Die Raumdarstellung in der Karawanserei ist auch zweierlei Art: sie ist zum Teil mimetisch aufgebaut, erhält aber Konnotationen. Das Verknüpfen von realem Objekt und Konnotation sehen wir vor allem in der Metaphorik, die mit einer Karawanserei verbunden ist: die Karawanserei ist ein ottomanisches Gebäude, eine zeitliche Ruhestätte für die Handelskarawanen. Wenn das Leben wie eine Karawanserei ist, so ist es eine zeitliche Ruhestätte, an der man sich miteinander treffen kann, an der man eine Art gebrechliche lingua franca gebraucht um sich zu verständigen, an der man 72 Natascha Würzbach: “Raumdarstellung.” In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg.von Vera und Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler 2004 (= Serie Sammlung Metzler, Bd. 344) S. 49-71, hier S. 49. 33 sich in der Fremde kürzere Zeit zu Hause fühlen kann. Es ist jedoch wichtig, dass Raum und Zeit in der Karawanserei implizit miteinander verbunden sind: sobald der herumziehende Kaufmann sich in der Umgebung der Karawanserei auskennt, muss er wieder abhauen. “Die Hunde bellen, aber die Karawane geht ihren Weg” 73, behauptet Mustafa. Die Handelskarawane führt dann weiter von Geschäft zu Geschäft; an jedem Ort gewinnt man etwas dazu und lässt man einige Sachen hinterher. Jene kaufmännische ‘Tauschmentalität’ oder vielleicht auch ‘Zigeunermentalität’ ist kennzeichnend für die Hauptfigur. An jedem Ort hat sie ein Stück von ihrer Naivität hinterlassen, während sie immer auch etwas Wertvolles zu ihrem ‘Gepäck’ hinzugefügt hat. Außerdem lebt sie auch wie die Zigeuner am Rande der Gesellschaft und betrachtet sie die bürgerliche Welt von der Außenseite wie einen engen, seelenlosen Platz. Die territoriale Gebundenheit ist für die meisten Leute eine Art Sicherheit, es verschafft ihnen die (kollektive) Identität. Die Erzählerin schöpft ihre Identität jedoch aus der Marginalität und Ungebundenheit: sie ist wie ein orientalischer Ahasverus, ein ewiger Wanderer. Das ewige Wandern, die Heimatlosigkeit bedeutet für manche Leute eine Bedrohung des Eigenen, aber für die IchErzählerin hat es eben zur Unabhängigkeit und Emanzipation geführt. Ihre persönliche Handelskarawane hat immer ihren eigen Weg gegangen und hat der Ich-Erzählerin Gewinn eingebracht. Die Faszination fürs Fremde führt ja zur Emanzipation. Das hat Özdamar in der Karawanserei thematisieren wollen: die Ich-Erzählerin brauchte dieses ewige Herumziehen, um ihre eigene Identität zu entdecken und entwickeln. Wer kein festes Ort zum Wohnen hat, kennt eine Art Freiheit, die anderen Leuten nur Schreck einjagt. Die Eltern der Ich-Figur haben auch eine Art Nomadenleben geführt, sie sind immer von einem Ort zum anderen gezogen, bis die Erzählerin diesen Lebensstil ausendlich ganz und gar verkörpert hat. Das Leben der – noch ungeborenen – Ich-Erzählerin fängt auch damit an, dass sie und ihre Mutter unterwegs sind. Für die Soldaten und die Ich-Erzählerin Mutterschoß 73 steht (“Man der holte Zug sie Symbol mit für dem eine Entfremdung ‘Schwarzen Zug’ aus aus dem ihren Özdamar: Karawanserei. S. 157. 34 Mutterschößen” 74). Karawane, die Er zu ist für einer die Soldaten unbestimmten und die Erzählerin Karawanserei führt, eine in der verschiedene Völker einander nicht nur begegnen, sondern auch bekämpfen: der männliche Kriegsschauplatz ist eine Abspiegelung der männlich orientierten Welt, in der die Soldaten und die Erzählerin nach dem Losreißen von den Mutterschößen deshalb auch wie letztendlich ein ankommen Kriegsschauplatz, werden. ein Kampf Das um Leben Macht, ist um Territorium, um Leben und Tod. Die Ich-Erzählerin teilt das Schicksal der Soldaten, weil sie selbst für ihr Leben kämpfen muss: als Baby scheint sie am Anfang nicht lebensfähig zu sein und muss sie die Mutter durch lautes Weinen vom Gegenteil überzeugen. Die Ich-Erzählerin wird von ihrer Mutter gleich nach ihrer Geburt in ein frisch gegrabenes Grab gelegt, und von der Großmutter wieder herausgeholt. Der Friedhof ist für die Großmutter und die Ich-Erzählerin auch eine Art Karawanserei, in der man zwischen dem Jenseits und dem Diesseits den Toten begegnen kann. Außerdem gibt es diese Friedhöfe überall, in der Stadt und in dem Dorf: hier verschwindet also der Unterschied zwischen Zivilisation und Chaos, hier kommt die Zeit zum Stillstand. Ein Friedhof ist ein Ort des Glaubens, des Aberglaubens, des Kontaktes mit ‘alten Bekannten’ und des Bewusstseins der eigenen Lebensgeschichte. Die Zahl der Toten wächst mit dem Alter heran: je älter man wird, umso größer wird der Anteil der Toten im Leben. Die Weisheit der Großmutter ist zum Teil aus dem Bewusstsein der zeitlichen Begrenztheit allen Lebens entstanden. Die Ich-Erzählerin kommt auf dem Friedhof zum ersten Mal mit dem Arabischen und der Gestik und Mimik der betenden Frau in Kontakt. In einer kindlich-naiven Weise imitiert sie die Gebärden der Großmutter und interpretiert die klagenden Worte je nach dem Rhythmus, obgleich sie diese Wörter nicht versteht. “Bismillâhirrahmanirrahim Elhamdü lillâhirabbil âlemin. Errahmanirrahim, Mâlüki yevmiddin.[…].” Als die Buchstaben aus dem Mund meiner Großmutter im Himmel des Friedhofs eine schöne Stimme und ein schönes Bild wurden, pustete meine Großmutter sie mit ihrem Atem nach links und rechts. “Die Toten brauchen es”. Ich sah die Buchstaben, manche sahen aus wie Vogel, manche wie ein Herz, an dem ein Pfeil steckt, manche wie eine Karawane, manche wie schlafende Tiere, 74 Özdamar: Karawanserei. S. 9-10. 35 manche wie ein Fluss, manche wie im Wind auseinanderfliegende Bäume, manche wie laufende Schlangen, manche wie unter Regen und Wind frierende Bäume. 75 Der “enge Wechselbezug zwischen Raumerfahrung und Identitätskonstitution” 76, über den Natascha Würzbach in der Analyse der Raumdarstellung redet, kommt hier nach vorne. Die junge Ich-Erzählerin identifiziert sich mit der Großmutter und zugleich auch mit den alten, traditionellen Bräuchen ihrer Voreltern. Die Emanzipation liegt darin, dass die ‘Friedhoferfahrung’, die Begegnung mit den Toten, bald von der IchErzählerin verinnerlicht wird und zur Kenntnis über die Welt beiträgt. Jedes Mal kommen neue Toten dazu, die mit dem Leben im Alltag verwoben gewesen sind und bleiben. Indem sie der Toten gedenkt, wird das junge Mädchen (sowie die Großmutter) sich der Schwierigkeiten und der Vergänglichkeit des Lebens bewusst. Die Aufzählung von Toten mutet zugleich kindlich-naiv und überlegt an: es ist Teil einer religiösen Tradition von Totenehrung, funktioniert jedoch auch als ein kindliches, pragmatisches und abergläubisches Ritual, um vielleicht ins Paradies zu kommen. Die egoistische Motivierung wird sogar noch deutlicher, weil sie während des Aufzählens letztendlich friedlich einschläft, so dass die Totenehrung vielmehr als ein Spiel des “Schäfchen zählens” betrachtet werden kann: […] für den hundertachtzehnten toten Sodaten, für den hundertneunzehnten toten Soldaten, für den hundertzwanzigsten toten Soldaten, für den hunderteinundzwanzigsten toten Soldaten, für den hundertzweiundzwanzigsten toten Soldaten, für den hundertdreiundzwanzigsten toten Soldaten. Als ich am morgen wach wurde, wußte ich nicht mehr, beim wievielten toten Soldaten ich geblieben war. 77 Ihr Ziel, aufzuzählen, ist nämlich alle vier selbstverständlich Millionen ein Beweis Soldaten dafür, in dass einem Gebet das junge Mädchen noch nicht sosehr mit dem abstrakten Konzept der Totenehrung vertraut ist; es ist für sie sogar unmöglich, den Tod als etwas Allgemeines zu betrachten. Sie muss alle einzelnen Toten benennen und ist daher nicht wirklich dazu im Stande, das Gebet als kontemplativ-meditative Handlung an sich zu betrachten. Trotzdem ist das Gebet ihre Art und Weise, über den Alltag nachzudenken, in dem Tod und Leben untrennbar scheinen. Sie ordnet die Eindrücke des Alltags in einer Auflistung; die Reihenfolge 75 Özdamar: Karawanserei. S. 18. Würzbach: “Raumdarstellung.” S. 55. 77 Özdamar: Karawanserei. S. 202. 76 36 widerspiegelt ihre eigene Erfahrung und markiert die wichtigsten Begegnungen. Ihre Gedanken sind in dem Sinne wie eine mentale, innere Karawanserei gestaltet, in der man Leuten begegnet, fremde Sprachen (Arabisch) redet und nachäfft und eine zeitliche Ruhestätte in dem chaotischen Leben des Alltags finden kann. Die Karawanserei ist auch ein mimetischer, geographischer Raum. Das Herumreisen der Hauptfigur und der Familie führt jeweils zu einer neuen (zeitlichen) Ruhestätte: Malatya in Anatolien, der Großstadt Istanbul, der Kleinstadt Yenisehir (in der “religiösen Straße” und in der “Bürokratenstraße”) und Bursa. Der geographische Raum ist jeweils mit soziokulturellen, ideologischen und emotionellen Konnotationen verknüpft. Der Gegensatz zwischen der Großstadt und dem Land (oder der Kleinstadt) impliziert ja manches für die Freiheit und Gebundenheit der Frau. Die positiven und negativen außerdem von den Merkmale drei der Generationen Stadt (Kind, und des Mutter, Landes werden Großmutter) ganz unterschiedlich bewertet. Die Stadt ist für die junge Hauptfigur ein Ort, an dem materieller Luxus vorhanden ist. Der Regen hörte auf, Mustafa kam und gab mir eine Lira. Ich konnte in Istanbul mit einer Lira viermal ins Kino gehen und 36 Filme sehen. In unserer religiösen Straße gab es keine Elektrizität, gab es kein Kino. Ich schluckte die eine Lira, so wollte ich, wenn eines Tages Elektrizität da ist, die Lira rausspucken und ins Kino gehen. 78 Die spezifische Namensgebung der “religiösen Straße” deutet schon darauf hin, dass die Religion in Istanbul nicht mehr ‘sichtbar’ ist, im Gegensatz zur konkret greifbaren Religion in Yenisehir. Religiöse Namen und sonstige religiösen Symbolen sind eher Ausnahmen; deshalb wird hier über religiöse βe’ Strageredet ‘die und über nicht mehrere relig iösen Straβen. Das Kopftuch ist eine Art Parameter, der die Religiosität einer Gemeinde widerspiegelt. Das Tragen eines Kopftuches ist hier jedoch nicht nur als religiöses Symbol mit identifizierender Funktion gemeint: als Mitglied der Gemeinde ist man der sozialen Kontrolle der Umgebung unterworfen. In inkludierend, sie Kopftuch 78 tragen, einer religiösen Gruppe sind Symbole halten jene Gruppe zusammen. als Zeichen der bereitwilligen Man dann auch oft kann also das in eine Integration Özdamar: Karawanserei. S. 81. 37 geschlossene Gemeinschaft. So bemerkt die Ich-Erzählerin, dass ihre Mutter in der religiösen Straβe plötzlich ein Kopftuch trägt. Die Mutter steht zwischen der Generation ihres Kindes, das wahrscheinlich in Zukunft kein Kopftuch mehr tragen wird, und der Generation der Großmutter: Meine Mutter Fatma hatte jetzt kein Kopftuch. “Wo ist das Kopftuch, Mutter?” Sie sagte, das Kopftuch werde sie nur für fremde Leute tragen. Ich hatte sie bis heute noch nicht mit Kopftuch gesehen. Nur meine Groβmutter trug zwei Kopftücher übereinander. “Warum trägst du für die Leute Kopftuch, Mutter?” Fatma sagte: “Hier ist eine religiöse Straße, man muss die Menschen nicht stören.” Wenn Vater unsere Villa fertig gebaut hat, braucht sie dort kein Kopftuch tragen, weil dort nur die Memurs (Bürokraten) wohnen werden. 79 Das Kopftuch ist Teil einer Tradition geworden und hat mit dem ursprünglichen Glauben noch wenig zu tun. Özdamar hat mit der ‘religiösen Straße’ anzeigen wollen, dass es sogar in der einen oder anderen Straße ganz unterschiedliche Regeln in Bezug auf das Tragen des Kopftuches geben kann. So macht sie deutlich, dass dieses Symbol der Religion ebenso arbiträr wie andere kulturelle Symbole in unserer sozialen Umgebung ist. Das Beispiel der Großmutter ist der Beweis eines temporalen Bestimmtseins von Symbolen: das Kopftuch wurde von den älteren Generationen als Symbol der Ehre betrachtet, während es die jüngeren Generationen (vor allem in den Städten) als Kopftuches Symbol wurde der ja Ungleichheit nicht vom betrachten. Profeten Das Mohammed Tragen eines auferlegt: seine Ehefrauen wurden nur geschleiert, damit man sie von seinen Geliebten unterscheiden könne. Später wurde der Schleier dann als Symbol für die Ehre verwendet. Die Erkenntnis, dass Symbole vor allem historisch und kulturell bedingt und in dem Sinne auch oft Zeichen der Macht sind, hat dafür gesorgt, dass man das Kopftuch nicht als dem Islam ohnehin inhärent betrachtete. vielmehr Das Mädchen von realisiert Tradition, sich sehr früh, Aberglauben und dass die Religion soziokulturellen Machtverhältnissen bestimmt ist. Der Unterschied zwischen dem modernen und dem traditionellen Glauben und der damit zusammenhängenden Position der Frauen, ist also in den geographischen Räumen sichtbar: die Diskrepanz zwischen der Stadt und dem Lande hängt mit den Reformen von Atatürk im Interbellum zusammen. 79 Atatürk hat die Position der Frauen wesentlich verbessern Özdamar: Karawanserei. S. 66. 38 wollen, indem er die Rechte der Frauen mit neuen Gesetzen erweiterte. Aus heutiger Sicht hat man sich jedoch realisiert, dass diese Reformen nur teilweise den gewünschten Effekt erreicht haben. Nermin Abadan-Unat hat in seinem Beitrag über die gesetzlichen und edukativen Reformen Folgendes behauptet: It would be a mistake, however, to think that state authority and elitist legislation have been able to transform all strata of society. On the contrary, progressive legislation has led to sharp polarizations between traditionally oriented predominantly rural values, and the progressive values adopted in urban areas. 80 Als die junge Ich-Erzählerin die Ferien in Anatolien (einer neuen Karawanserei) verbringt, spürt sie schon die Kluft zwischen dem modernen Istanbul und dem traditionellen Anatolien. Sie demaskiert gleich die herrschenden Vorurteile und Klischees. Die Türkei ist in der Außenpolitik immer als modernistischer Staat gezeigt worden, mit Istanbul als tonangebender Stadt, während man die traditionellen Regionen am liebsten im Dunklen ließ: Später, als ich die Negative der Photos sah, erinnerte mich das sehr an diese Zeit, an die weiße Sonne und die schwarzen Menschen. Also deswegen fragte die Lehrerin in Istanbul, ob ich einen Schwanz am Arsch habe, weil ich in dieser Stadt [=Malatya] geboren bin. Die Menschen in Istanbul waren die entwickelten Photos, die man gerne an die Wände hängt, und die Menschen in Anatolien waren die Negative, die man irgendwo im Staub liegen läßt und vergißt. 81 Jener Schwanz am Arsch, über den im obenstehenden Zitat die Rede ist, ist Ausdruck der so genannten Zurückgebliebenheit von Menschen auf dem Lande. Da ist die Zeit zum Stillstand gekommen, wichtiger als Kultur und Individualität. Religion und Natur sind Geschleierte Frauen sind in Anatolien zum Beispiel noch ein wesentlicher Teil des soziokulturellen Raums. Die Bildersprache der Ich-Erzählerin weist subtil darauf hin: Diese zwei Monate, in denen ich dort war, waren wie ein einziger sehr sehr langer Tag, und er fing mit Morgenröte an.[…] Ich sah in dem Garten den Schleier der Morgenröte, die Schlangen spazierengehen zwischen den Granatapfelbäumen. 82 Der Schleier der Morgenröte ist Zeichen der symbolischen Gestaltung der ganzen geographischen und soziokulturellen Umgebung: die Natur der Menschen wird hier verschleiert. Später, als die Frauen ins 80 Nermin Abadan-Unat: “Legal and Educational Reforms.” In: Women in Middle Eastern History. Shifting Boundaries in Sex and Gender. Hrsg. von Nikki R. Keddie und Beth Baron. New Haven, London: Yale University Press. 1991. S. 177 – 194, hier S. 181-182. 81 Özdamar: Karawanserei. S. 48. 82 Ibid., S. 24. 39 Türkische Bad (“ein[en] Mutterbauch” 83) gehen, ziehen sie der Ich- Erzählerin auch einen Schleier an. Auf der Straße begegnet sie dann wiederum zahllosen anderen geschleierten schwarzen Löchern gebrochene schwarze Frauen, Geister” 84 die sie beschreibt. als Erst “aus im ‘Mutterbauch’ verschwindet der Schleier, aber nicht die Vorurteile der ganz geschlossenen Frauengemeinde: Da kam eine sehr schöne Frau in das Badehaus rein. Das ganze nackte Fleisch von den anderen Frauen hörte auf, sich zu bewegen, nur ihre Münder machten sich auf, der Frauenchor flüsterte: “Die Hure ist da.” […] Wir gingen als lange Schlange hinter dieser Hure her aus dem Badehaus. Sie stieg in eine Kutsche, ohne Schleier, und der Kutschwagen spritzte Straßenschmutz auf uns Verschleierte, und ich schwor mir, eines Tages so wie diese Hure zu werden. 85 Diese Szene ist übertrieben dramatisch gestaltet worden: die eifersüchtige, hissende, giftige Schlange (die sozusagen wie die Zungen der Frauen ist) geht hinter der ‘Hure’ aus dem Badehaus, um nur noch die Kutsche der ungeschleierten Frau abfahren zu sehen und zugleich unter ihrem Straßenschmutz begraben zu werden. Die Erzählerin verspricht sich selbst, sich eines Tages auch so zu benehmen wie diese ‘Hure’: die positive Bewertung des Non-Konformismus spricht für die emanzipierte Haltung der Erzählerin. Sie bewundert diese schöne, ungeschleierte Frau und distanziert sich zugleich von den Vorurteilen der geschlossenen Frauengemeinde. Das Herumziehen der Erzählerin ist ein wesentlicher Teil der Raumdarstellung: jede Grenzüberschreitung, die in die Fremde fuhr, hat eine Entwicklung der Identität zu Stande gebracht. Es gibt in der Erzählung kein wirkliches Zuhause, sondern nur Karawansereien, d.h. zeitliche Ruhestätten. Die Hauptfigur und die Familie verlassen das erste Haus, weil der Vater Mustafa eine neue Arbeitsstelle in einer Kleinstadt erworben hat. Das Haus, das sie hinter sich lassen, wird mit einem Grabstein verglichen: ein materielles Denkmal, das traurig hinter seinen Bewohnern herschaut: […] unser schiefes Holzhaus war dunkel. Er [Personalisierung von Haus] stand da wie ein großer Grabstein und schaute auf uns wie ein Mensch, der hinter dem Sarg seiner Mutter herschaut. 86 83 Özdamar: Karawanserei. S. 50 Ibid., S. 50 85 Ibid., S. 52 86 Ibid., S. 64. 84 40 Die kindlich-naive Haltung der Erzählerin ist an der Zukunft orientiert: es ist für sie wie eine große Abenteuer. Das Haus schaut ihr hinterher, und nicht umgekehrt. Diese Perspektive weist darauf hin, dass sie sich schon von der alten Umgebung verabschiedet hat. Die Großmutter hängt am Anfang noch an der alten Umgebung, weil die Fremde ihr Angst einflößt. Die Bindung mit der sozialen Umgebung ist für alte Leute eine Sicherheit, die sie am liebsten behalten. Junge Leute sind dagegen sehr anpassungsfähig: Ich fiel mit Benzingeruch in den Schlaf und wachte in einem anderen Holzhaus in der Kleinstadt auf. Ich stand sofort auf, ging schnell raus und suchte das Meer. Ich sah eine im Himmel ertrunkene Gasse. Das Meer war nicht da, drei Mädchen standen vor mir in meiner Größe. Sofort haben wir angefangen, Seksek zu spielen. 87 Dieses ‘andere Holzhaus’ ist zwar anders, aber doch erkennbar. Draußen trifft die Erzählerin sofort einige Mädchen, die die ‘universelle Sprache’ des Spieles Seksek gleich benutzen, um Kontakt zu suchen. Die Flexibilität des jungen Mädchens ist laut Regula Müller jedoch auch in der Gestalt der Großmutter vertreten: Die Verbindung der Großmutter zu den anderen Frauen ist im Roman von zentraler Bedeutung: Ihren emotionalen Rückhalt findet sie fast ausschließlich in angestammten Frauenräumen, in der Familie, in der Nachbarschaft oder im Frauenbad. Auch wenn sie ihr traditionell-religiöses Leben weitgehend aufrechterhält, ist es ihr aufgrund ihrer gefestigten Identität möglich, das Maß an Flexibilität aufzubringen, das ihr in der ‘modernen’ Gegenwart abverlangt wird. Ihrer Enkelin folgend, verlässt sie immer öfter bisher angestammte Frauenorte, wie das Haus oder gar die Gasse, in der die Familie wohnt. 88 Die Großmutter entwickelt sich in der Geschichte: obwohl sie am Anfang vor allem Angst vor dem ewigen Herumziehen hat, geht sie immer mehr spazieren, weil das Haus für sie die Bedeutung eines Schutzraumes verloren hat. Das Überschreiten der Grenze wird von Regula Müller als eine “imaginäre Überschreitung der Geschlechtergrenze” 89 gekennzeichnet. Die Karawanserei ist in dem Sinne auch ein Knotenpunkt zwischen der Männerund Frauenwelt. Das Mädchen fühlt sich zu Hause in der Fremde, d.h. sie fühlt sich auch in der Männerwelt zu Hause. Die Erzählerin bekommt Mitleid mit den jungen Frauen, die sich nur in ihrer ‘Frauenwelt’ aufhalten. 87 Özdamar: Karawanserei. S. 65. Regula Müller: “Türkische Frauengeschichten.” In: Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur. Hrsg. von Sabine Fischer und Moray McGowan. (= Band 2 Studien zur Inter-und Multikultur) Tübingen: Stauffenburg. 1997. S. 138. 89 Ibid., S. 145. 88 41 In der ‘seelenlosen Gasse’ in Bursa stehen diese Frauen vor ihrem Fenster, und gucken hinter ihren Männern her, die über die Brücke in eine andere Welt verschwinden. Es war nichts da, was ihnen Angst geben könnte. Sie konnten sehen, ihre Hände bewegten sich, sie waren jung, so jung, noch unreife, von einem Quittenbaum runtergenommene Quitten, und sie standen da, als ob sie ständig in sich selbst regneten. Sie trugen öfter Kleider mit Blumenmuster[…]. Aber sie gingen damit nicht raus auf die Gasse, als ob sie, wenn sie rausgingen, die Blumen verlieren würden. Ich saß am Fenster und dachte, wenn ein Schiff jetzt kommt und alle diese Frauen in sich aufnimmt und wegfährt, werden diese Frauen den Kapitän und die Schiffsarbeiter nicht fragen, wohin. 90 Die seelenlose, stille Gasse mit ihren Steinhäusern steht Symbol für das moderne Leben: die Frauen haben den Respekt vor der Arbeit des Mannes verloren, sie sind nicht mehr in ihre Männer verliebt, sie würden die Ehemänner verlassen, sollte es die Möglichkeit geben. Die geruchlosen, seelenlosen, lautlosen Häuser dieser Frauen werden von der Ich-Erzählerin mit einem Verlust der ursprünglichen Werte verknüpft. Die Liebe ist verschwunden und die Ehre ist an ihre Stelle getreten. Die Ehre und der Reichtum der Frauen haben die Gemütlichkeit verdrängt, sie tragen das Leben - wie ihre Röcke - nur mit größter Mühe. Das Mädchen geht allzu gerne aus der seelenlosen Gasse über die Brücke: auf der anderen Seite gibt es die Arbeitswelt der Männer, die die meisten Frauen nur als unbestimmten Punkt an ihrem Horizont kennen. Nach der Geburt ihrer Schwester “Schwarze Rose” sieht sie ein, dass ihre Mutter sie nicht mehr zu Hause braucht, sie “schlief [jetzt] mit einem anderen Mädchen im Bett.” 91 Die Aufmerksamkeit der Mutter geht jetzt an ihren jüngsten Spross: das emanzipatorische Handeln der Ich-Erzählerin hat alles damit zu tun, dass sie sich geschätzt fühlen will. Sie ist jetzt nicht mehr das einzige, jüngste Mädchen im Hause, deshalb rebelliert sie, um wenigstens die Aufmerksamkeit des Vaters zu bekommen: Mit der Geburt meiner Schwester Schwarze Rose fingen für mich Vallahi Billahi- Tage an. Ich kam abends nach meinem Vater vom Bach nach Hause, und er fragte mich immer, ob ich ein Junge wäre, ich sagte: “Vallahi Billahi[Bei Gott und Fürwahr], ich bin kein Junge.” 92 90 Özdamar: Karawanserei. S. 119. Ibid., S. 141. 92 Ibid., S. 146 91 42 Die Großmutter geht bald auch spazieren und wartet auf das Mädchen beim Brunnen. Sie erzählt ihr immer über die neuen Toten, denen sie auf ihrem Wege begegnet ist, und das Mädchen erzählt ihr, was alles am Bach passiert ist: es ist wie ein geheimes Bündnis, das sie geschlossen haben. Außerdem verschaffen sie einander ein Alibi, um Mustafa zu beruhigen: Vater fragte mich: “wo warst du?” Ich sagte: “Vallahi, Billahi, ich war mit meiner Großmutter zusammen.” Vater fragte Großmutter: “Wo seid ihr so lange geblieben, Mutter?” Großmutter sagte: “Wir sind zum Atatürk gegangen.” 93 Die burschenhafte Mentalität der Ich-Erzählerin wird wiederum von der Großmutter kopiert: sie erscheint als moderne “Flaneuse” 94 am Schauplatz des Alltagslebens. Flaneuse noch Würzbach mal im hat die feministische Bezeichnung Kontext der narratologischen einer Raumdarstellung benutzt: Den zivilisatorischen Gegenpol zur freien Natur bildet die Stadt und insbesondere die Groβstadt, ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Auch zu diesem gesellschaftlichen Raum war der Frau ohne männliche Begleitung der Zugang zunächst verwehrt (Nord 1991). So wird das Hinausgehen in die Straβen und der Besuch ihrer öffentlichen Gebäude zu einem emanzipatorischen Akt […] Der männlichen Figur des Flaneurs wird die weibliche der Flaneuse zugeordnet […]. 95 Regula Müller erwähnt weiter noch die “Frauen in 96 Grenzbereichen” , die für das junge Mädchen eine entscheidende Rolle in der Ausprägung der Identität gespielt haben. Oben habe ich schon die ‘Hure’ im Badehaus erwähnt, die von der Erzählerin wegen ihres Non- Konformismus bewundert wurde. Es gibt jedoch noch andere Figuren, laut Müller, die den Gesichtskreis des jungen Mädchens erweitern. Dadurch entsteht im Roman ein sehr Ausprägungen, während die Männerwelt wo die Geschlechtergrenzen fließender sich ebenfalls entlang der Grenzen der überschritten haben. 97 präzises Bild der Frauenwelt in all ihren keine klaren Umrisse annimmt. An Orten, sind, trifft die Ich-Erzählerin Frauen, die gesellschaftlichen Norm bewegen oder diese Das Mädchen bewundert diese Frauen, weil sie alle dem Klischeebild der fast sakralisierten, ehrbaren Frau in der türkischen Gesellschaft widersprechen. Ihr a-typisches Benehmen hängt sehr stark mit der Ehre von Frauen zusammen: die Huren, die Verrückten und die politisch engagierten Frauen sind in dem Sinne eigentlich eine Entkräftung der männlichen 93 Özdamar: Karawanserei. S. 148. Würzbach: “Raumdarstellung.” S.55. 95 Ibid., S. 55 96 Müller: “Türkische Frauengeschichten.” S. 145. 97 Ibid. 94 43 Stereotypisierung von Frauen. Özdamar hat den öffentlichen Bereich der Gesellschaft mit einer Vielzahl von Frauentypen gestaltet, im Gegensatz zum privaten Bereich der Familienwohnung, in dem sich nur Mutterfiguren aufhalten. Die Erzählerin betrachtet die drauβen fast Sloterdijk wie hat philosophischen einen griechischen die ‘vater- und mutterlose’ Welt Schauplatz Begriffspaar Buch “Kritik des Kynismus. Zynismus-Kynismus der zynischen in Vernunft” Peter seinem benutzt. Den Kynismus hat er als die einzige mögliche Lösung für die allgegenwärtige Problematik des zynischen Denkens dargestellt. Diogenes ist für Sloterdijk die Verkörperung jenes ursprünglichen Kynismus. Sowie Diogenes mit seinem körperlichen Benehmen die öffentliche Ordnung der idealistischen (platonischen) Philosophen Karawanserei (in gestört hat, wortwörtlicher so und stören die übertragener Randfiguren der Bedeutung) die stereotypisierten Verhältnisse in der türkischen traditionellen Der Körper gilt in diesen ‘niedrigen Regionen’ der Gesellschaft. Gesellschaft als Kommunikationsmittel, sowie im griechischen Kynismus. Unsere Nachbarinnen sagten: “In Bursa wachsen die Verrückten an den Bäumen.” Der Polizistnachbar hatte drei Töchter, sie sagten: “wir gehen zu unserem Verrückten.” Ich ging mit, zu einem leeren Grundstück, dort β sa ein sehr alter Mann, er hockte da, wir hockten um ihn rum, er nahm sein Pipi in seine Hand, so ein Stück Fleisch, zog daran und sagte: “Das heisst die WARE.” 98 Es gibt im privaten Bereich der Karawanserei auch Anzeigen dafür, dass viele Tabus ganz offen besprochen werden können: da findet man also eine körperliche (kynische) Sprache, die dem Klischee der sexuellen Tabuisierung in der Türkei widerspricht. Die Raumdarstellung in der Karawanserei ist zum Schluss wie ein Netz von Karawansereien zu betrachten. Das Herumziehen der Familie und die zahlreichen zeitlichen Karawansereien sind mit der Identitätsentwicklung der Ich-Erzählerin verknüpft. Sie bekommt immer mehr Information über ihre Umgebung und überschreitet verschiedene Schwellen, die jeweils einen Übergang vom Arbitrarität Materiellen Sinnlichen von (z.B. zum Symbolen das (z.B. Haus, Ideellen das die markieren. So erfährt sie die Wertlosigkeit des Kopftuch), die seelenlose Gasse), die zeitliche Beschränktheit des Lebens (an Hand der Totengedenkung). Letztendlich gibt 98 Özdamar: Karawanserei. S. 176. 44 es auch einen Übergang vom Ideellen zum Körperlichen (der gleich die Pubertät ankündigen könnte): die stereotypisierte und sogar auch idealisierte Beschreibung von Frauen und Männern wird entkräftet, dadurch dass das Mädchen die Grenze zwischen beiden Geschlechtern überschreitet. Die IchErzählerin geht über die Brücke in die Männerwelt hinein und begegnet da in der Öffentlichkeit vielen weiblichen Figuren die gerade das Körperliche repräsentieren, im Gegensatz zur ideellen Darstellung der Mutter- (und Vater)figur. und des Diese Grenzüberschreitungen innerlichen Wachstums. In sind der Zeichen der Raumdarstellung Emanzipation wurde schon deutlich, dass Özdamar eine ganz persönliche Geschichte geschrieben hat, die nicht sosehr von den Handlungen, sondern vielmehr von der spezifischen Perspektive der Ich-Erzählerin geprägt ist. 6. Die Raumdarstellung in der Tochter des Schmieds: die sozioökonomische Funktionalisierung und mentale Dualisierung von Räumen. Die Geschichte von Özdogan ist – wenn nicht weniger literarisch gelungen – doch vielmehr von einer männlichen Perspektive geprägt. Das erzählende Geschlecht (auf Geschlecht der (die discourse-Ebene) so geschlechtsspezifischen genannte Merkmale ist dominanter Tochter des auktorialen des als das erzählte Schmieds): Erzählers haben die ihren Stempel auf die ganze Geschichte gedrückt. Die Tochter des Schmieds wird zwar als Hauptfigur in den Vordergrund gestellt, aber die hinzukommenden Kommentare und Informationen sind meist aus männlichem Blickwinkel beschrieben worden. Die Gestaltung der Räume ist männlich orientiert: die Arbeitswelt des Schmiedes formt den Ausgangspunkt der Erzählung und echot in die weiblichen Bereiche weiter. Im Gegensatz zum persönlichen Charakter der Raumbeschreibung bei Özdamar, dank der Ich-Perspektive, ist die Raumdarstellung in der Tochter des Schmieds Bedeutungsganzen, mehr stereotypisiert. die von der Die Räume sind sozio-kulturellen kollektive (symbolischen) 45 Wirklichkeit geprägt sind. Die sozio-kulturelle Umgebung ist auch eine gender-orientierte Umgebung: deshalb gibt es hier auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Beschreibung von Räumen durch Timur (den Vater) und Gül (die Tochter). Natascha Würzbach erwähnt in Bezug auf die geschlechterorientierte Territorialisierung: Wo männliche und weibliche Figuren als Fokalisierungsinstanzen und Handlungsträger denselben sozialen Raum teilen, werden in der Erzählliteratur geschlechtsspezifische Unterschiede im Erleben und Handeln verdeutlicht. Dabei werden geschlechtsstereotype Prägungen und ihr kultureller Wandel in dem bisher wenig beachteten Bereich der Raumdarstellung in der Erzählfiktion sichtbar. 99 Die geschlechtsstereotypen Prägungen sind vor allem in der Tochter des Schmieds ganz deutlich hervorgehoben. Dabei fällt auf, dass alle Räume mehr oder weniger funktionalisiert und dualisiert sind: es sind ökonomische Räume, in der Männer und Frauen eine gewisse Aufgabenverteilung erfüllen. So gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen dem Dorf und der Stadt, zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich, zwischen dem Arbeitsplatz und der häuslicher Umgebung usw. Die mentale Dualisierung der Räume gilt vor allem für Gül: die Elternwohnung assoziiert sie mit Pflichterfüllung, die Schmiede mit freiwilliger Dienstbarkeit. Die Funktionalisierung der Räume hat mit der sozio-ökonomischen Struktur der Gesellschaft zu tun. Die Handlungsräume des Schmieds sind zum Beispiel an seine Berufstätigkeiten orientiert: die Stadt, das Dorf und sogar die Übergangszone zwischen dem Dorf und der Stadt sind im Großen und Ganzen als Arbeitsplatz gestaltet worden. Es gibt die Schmiede in der Stadt, den Apfelgarten am Rande der Stadt, das Teppichgewebe zu Hause, den Weinberg im Dorf und die Geschäfte zwischen der Stadt und dem Dorf. Die geschäftstüchtige Einstellung von Timur ist also das prototypische Beispiel einer erfolgreichen Kultivierung der Umgebung, die zur Bequemlichkeit führt und der Familie außerdem Ansehen verschafft. Die Schmiede in der Stadt ist für Timur ein Ort der Kreativität, der Selbstbestätigung. Der breitschultrige Schmied kann hier nicht nur seine Kraft demonstrieren, sondern auch seine Fertigkeit. Die Schmiede repräsentiert Stolz und zugleich auch eine Art männlicher Geborgenheit für die Frauen seiner Umgebung. Sowohl seine erste Frau Fatma, als auch seine 99 Würzbach: “Raumdarstellung”. S. 52. 46 Töchter kommen oft zu ihm zu Besuch, da es in der Schmiede immer warm ist und sie manchmal ein bißchen Geld bekommen, um sich etwas zu kaufen. Meiner Meinung nach ist die Schmiede für die Kinder den Ersatz der familiären Wohnung. Nach dem Tod ihrer Mutter sind die Kinder der Autorität der Stiefmutter ausgeliefert, deshalb ist die Schmiede für sie ein Schutzraum und “Ort der familiären Geborgenheit” 100. Diese Merkmale sind laut Würzbach normalerweise mit dem traditionellen Haus verbunden. Die Schmiede ist also ein Ort der Vaterliebe (anstatt der verlorenen Mutterliebe), der väterlichen Sorgsamkeit und zugleich auch ein Ort des materiellen Schutzes (Geld, Wärme, usw.) und männlicher Verantwortung. Im Gegensatz dazu steht das Elternhaus, das vor allem mit der Stiefmutter assoziiert wird. Gül ist das einzige der Kinder, das sich noch genau daran erinnern kann, wie es zu Hause mit ihrer biologischen Mutter war. Die schmerzliche Erinnerung an die Zeit mit ihrer Mutter wird dann noch verstärkt, als sie zum ersten Mal mit der Familie ohne die Mutter ins Sommerhaus zieht. Sie hatte verdrängt, daß die Stadtkinder sich über ihre Aussprache lustig machen. Und sie hat nicht daran gedacht, daß sie zu Hause niemanden mehr hat, mit dem sie spielen kann. Es gibt kein Kitzeln und keine Raufereien, und es gibt keine Koseworte mehr, weder hier noch auf dem Dorf. 101 Auf der selben Seite wird nicht nur auf die fehlenden Koseworte und Zuneigung gewiesen, sondern auch auf das unzulängliche Verantwortlichkeitsgefühl von Arzu. Sie lässt die Kinder allein zu Hause, während sie stundenlang mit den Nachbarn plaudert. Gül langweilt sich zu Hause, im Gegensatz zur Zeit, in der ihre Mutter noch am Leben war. Sie ist immer gerne zu Hause gewesen und, da jetzt die Mutter nicht mehr da ist, könnten wir sagen, dass sie keinen einzigen Ort mehr hat, wo sie zur Ruhe kommen kann. Das hat auch damit zu tun, dass Gül ein sehr ängstliches Kind ist; sie hat vor manchem draußen Angst. Sogar der Kuhstall und der Garten machen ihr Angst; das weiß zum Beispiel ihr Vater sehr genau, aber das hat Arzu noch nicht einmal bemerkt. Gegenüber der Pflichtverletzung von Arzu steht dann auch noch, dass sie die Hausarbeiten öfters von Gül erledigen lässt. Im unten zitierten Aufsatz stellt sich heraus, dass Arzu nicht 100 101 Würzbach: “Raumdarstellung”. S. 52. Özdogan: die Tochter des Schmieds. S. 72. 47 nur stolz ist, sondern auch sehr opportunistisch (und sogar faul). Das Haus wird immer mehr mit der Autorität von Arzu verknüpft; die Kinder sind letztendlich nicht mehr gerne da. Arzu verbringt viel Zeit mit den Nachbarinnen, hält Schwätzchen oder lädt die Frauen zu sich ein, um ihnen Kaffee zu machen. Die wenigsten können sich Kaffee leisten, aber Arzus Mann verdient genug und sie ist stolz darauf. Wenn Arzu zu Hause ist, soll Gül in Rufweite bleiben, denn ihrer Mutter fällt dann oft ein, daß Wasser aus dem Brunnen gepumpt werden muß, die Zimmer zu fegen, die Decken und Kissen auszuklopfen sind. 102 Es ist natürlich wiederum ein sehr erkennbares Problem, dass Kinder es schwierig finden, Aufgaben für eine Stiefmutter zu erledigen, die erstens nicht lieb ist und zweitens unverschämt mit dem Reichtum ihres Mannes angibt, anstatt sich wirklich stereotypisierte Verknüpfung um von seine Haus und Kinder zu kümmern. Pflichterfüllung wird Die vom Erzähler problematisiert, denn er geht undoppeldeutig auf den Stolz von Arzu ein: es wäre für Gül kein großes Problem gewesen, die Hausarbeiten zu erledigen, falls Arzu so bescheiden und sanft wie Fatma gewesen wäre oder wenigstens eine ähnliche Art Fleißigkeit zur Schau gestellt hätte. Der Leser spürt aufs Neue den unverholenen Gegensatz zum “sanften und sauberen Wesen” von Fatma: sie plauderte auch manchmal, aber ihr Pflichtsbewusstsein war viel größer: erst als sie alle mögliche Hausarbeiten erledigt hatte, ging sie zu ihren Freundinnen und dennoch war sie nicht so frech, unverstört sitzen zu bleiben, als ihr Mann zu Hause ankam: Als Fatma ihn erblickte, sprang sie auf, doch er bedeutete ihr, sitzen zu bleiben, stieg ab, führte sein Pferd am Zügel in den Stall und rauchte auf den Stufen vor dem Haus eine Zigarette, während er zusah, wie die Sonne unterging.[…] [Fatma:] Du bist früh dran, ich habe gedacht, du kommst so spät wie in den letzten Tagen. Das Essen ist fertig. Drinnen blickte der Schmied auf den Teppich im Webstuhl, sah, daß sie gearbeitet hatte, und lächelte leise in sich hinein. 103 Früher war das Haus also für den Schmied (und später auch für die Kinder) tatsächlich ein Ort, wo man zur Ruhe kommen könnte, wo die Frau pflichtsbewusst alle möglichen Aufgaben erfüllte, auf dass sie Abends ihren Mann und ihre Kinder verwöhnen könnte. Bei der Stiefmutter ist das ganz anders geworden: die Kinder werden allein gelassen, sie bekommen oft keine Aufmerksamkeit, langweilen sich zu Hause, während die Stiefmutter sich mit ihren Freundinnen amüsiert. Sie sollten nicht in Rufweite bleiben, weil Arzu auf die Kinder achten will, sondern weil sie ab und zu von ihr 102 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 75. Ibid., S. 22. 103 48 einige Aufgaben bekommen. Der weiblich orientierte Handlungsraum (die Wohnung) ist daher auch weniger wichtig als der männlich orientierte Raum (die Schmiede): da können die Mädchen in aller Gemütlichkeit während ihrer Mittagspause sitzen, ohne dass sie dieses oder jenes erledigen müssen. Besser gesagt: in der Schmiede können sie noch ruhig Kind bleiben. Für Gül kommt der Schritt zur Selbständigkeit und Befreiung von stiefmütterlicher Autorität erst, nachdem sie die Schule verlassen hat. Ihre Stiefmutter will nicht mehr, dass sie immer zu Hause sitzt, sie soll einen Beruf erlernen. Das bedeutet aber nicht, dass Gül sich jetzt in den öffentlichen Raum begeben wird, der von Männern regiert wird. Gül wird im Haus von Esra, einer Schneiderin, mit der Nähmaschine arbeiten lernen. Bald wird das Nähzimmer für sie ein neues Zuhause, in dem sie sich vor allem um Esras Töchterchen Candan kümmert und in dem sie zum ersten Mal – seit ihrer Mutter gestorben ist - erfährt, wie es ist, eine andere Person als den Schmied zu bewundern: Esra Abla, sagt Gül zu ihr, große Schwester Esra. Sie sagt das, weil Esra das möchte, denn wenn jemand sie Tante Esra nennt, kommt sie sich so alt vor. Endlich hat Gül auch jemanden, zu dem sie Abla sagen kann wie ihre Geschwister zu ihr. 104 Der neue Arbeitsplatz gilt für Gül als ein Freiraum, in dem sie sich geliebt fühlt; auf dem Weg zu Esra kann sie außerdem noch mit Mädchen in ihrem Alter spielen, so dass man tatsächlich von einer grenzüberschreitenden Situation reden kann: auf dem Wege ist sie noch ein Kind, während sie im Arbeitsraum oder in der Elternwohnung schon vielmehr eine Erwachsene ist. Ihr Mutterinstinkt, der vor allem durch Candan, die Tochter von Esra, stärker geworden ist, wird zu Hause auch spürbar, weil Gül immer öfter mit ihren jüngeren Schwestern (Melike und Sibel) über ihre Erfahrungen mit Fatma redet. Die jüngeren Schwestern sind völlig von Güls Wissen über die Vergangenheit abhängig, weil sie noch zu jung waren, als das sie alles bewusst erlebt hätten. So erzählt Gül über ihre Mutter jetzt alles, was ihr einfällt und fühlt sich gleich ganz erleichtert. Meiner Meinung nach ist Gül ab diesem Moment eine junge Frau: die Erzählungen werden zu einem Ritual, in dem Gül ihre Kenntnis über die Vergangenheit vermittelt, wie einst die junge Fatma ihre Märchen den 104 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 156. 49 Frauen aus dem Dorf erzählt hat. Sie ist die unentbehrliche Verbindung zwischen den jüngeren Schwestern und der gestorbenen Mutter, ohne Gül werden Melike und Sibel sich nicht einmal ihrer Herkunft bewusst. Die drei Töchter werden von nun an öfters zu Hause auf der Holztruhe der Mutter sitzen und Gül zuhören. Diese Truhe ist meiner Meinung nach wie ein Mikrobereich, in dem die jungen Frauen sich aus dem Jetzt losreißen und sich in den mentalen Raum ihrer gemeinsamen Herkunft zurückziehen; in diesem Raum gibt es keine Stiefmutter. Würzbach hat diese mentalen Räume schon als “einen Gewinn an (innerer) Freiheit” 105 beschrieben. Für Gül ist das allerdings der Fall: sie bekommt jetzt die Chance, ihrer Mutter einen Platz im Alltagsleben zu schenken, während sie vorher doch immer darüber geschwiegen hat, um Arzu nicht zu beleidigen und die stiefmütterliche Autorität nicht zu unterminieren. Das geheime Bündnis gibt den Schwestern eine eigene Identität und verbindet sie auch in Zukunft. Die Wohnung der Schwiegereltern, in der Gül sogar ohne ihren Mann Fuat leben muss, bedeutet das tatsächliche Ende der unbesorgten Kindheit, in der Gül fünfzehnjähriges, neu patriarchalischen System, Pflichten” 106 trotz allem verheiratetes “die noch Mädchen wenigsten ziemlich hat sie, Rechte frei ganz und war. Als gemäß dem die meisten . Die Wohnung ist – jetzt noch mehr als früher - der Ort, in dem Gül der Willkür und Autorität ihrer Schwiegereltern ausgeliefert ist. Sie sollte sich um ihre Neffen und Nichten kümmern und ganz gehorsam alle möglichen Aufgaben erledigen. Folgendes Zitat aus der Erzähltextanalyse von Nünning und Nünning scheint gerade auf Die Tochter des Schmieds besonders anwendbar zu sein: “Als eine für weibliche Figuren typische Fluchtmöglichkeit erweist sich der Rückzug in den psychischen Innenraum, den beispielsweise die Protagonistin in May Sinclairs autobiografischem Roman Mary Olivier. A life (1919) in ihrem poetischen und philosophischen Erleben vollzieht” 107. Auch Gül fängt an, Romane zu lesen, um der Einsamkeit in ihrem Leben ein bißchen zu entfliehen. Die phantastischen 105 Würzbach: “Raumdarstellung”. S. 61. Özdogan: die Tochter des Schmieds. S. 220. 107 Würzbach: “Raumdarstellung”. S. 53. 106 50 Romane sind aber vielmehr eine Konfrontation mit der Realität, als dass sie eine wahre Fluchtmöglichkeit bieten. In den Büchern steht, wie junge Frauen sich fühlen können, da steht etwas über Schande und Leid, über Gerede und Klatsch, über Aufrichtigkeit und Mut. Doch nirgends steht, wie es sein kann, im Haus der Schwiegereltern als Dienstmagd zu hausen, weil der Ehemann beim Militär ist. 108 Im Gegensatz zur Karawanserei gibt es für Gül also keine wirkliche Fluchtmöglichkeit: Gül lebt und arbeitet in weiblich orientierten Räumen, die sehr stark funktionalisiert sind. Die Elternwohnung, die Wohnung der Schwiegereltern, das Nähzimmer: es sind alles weibliche Bereiche, in denen Gül arbeitet und lebt, ohne dass es einen Zugang zum öffentlichen Raum gibt. Die Schmiede ist eine Ausnahme im männlichen (öffentlichen) Bereich, weil sie einen Ersatz bietet für die Töchter (vor allem aber für Gül), die die Elternwohnung schon längst nicht mehr als Schutzraum betrachten, sondern als Raum der Pflichterfüllung und stiefmütterlichen Autorität. Man könnte jedoch konkludieren, dass die Räume in der Tochter des Schmieds sehr stark abgegrenzt wurden: die Männer haben ihre Umgebung ganz kultiviert, während Dienstmagd die Frauen funktionieren. vor Die allem Grenzen zu Hause werden nie bleiben und überschritten, als Gül konformiert sich und passt sich den Normen und Regeln der Gesellschaft an. Die Freiheitsberaubung ist Teil des patriarchalischen Systems, in dem Frauen sich nicht im öffentlichen Raum oder in Grenzbereichen aufhalten. Es ist bemerkenswert, wie die zwei Erzählungen von Özdogan und Özdamar ganz unterschiedlich mit den dualisierten Räumen umgehen. In der Karawanserei fühlt die Hauptfigur sich in der Fremde zu Hause, sie liebt es, Grenzen zu überschreiten, sie sieht letztendlich ein, dass jede Umgebung zugleich eine Fluchtmöglichkeit bietet; man muss nicht unbedingt irgendwo bleiben, wo Großmutter man sind sich wie nicht moderne glücklich fühlt. Flaneusen, die Die Hauptfigur sich am und die liebsten im öffentlichen Raum aufhalten. In der Tochter des Schmieds fühlt Gül sich vor allem fremd und nirgendwo zu Hause, es ist also gerade das Umgekehrte der Karawanserei. Es gibt hier keinen Ausweg, keine zwei Türen; es gibt nur eine Tür, die jemanden einschließt und die Freiheit einschränkt. Die 108 Özdogan: die Tochter des Schmieds. S. 222. 51 zwei Bücher sind im Wesen wie zwei Extremen auf einem Kontinuum zwischen totaler Emanzipation und radikalem Konformismus. 7. Die Handlung und der Plot in der Karawanserei: weibliche Flaneusen und Pikaros, männliche Casanovas. In der gender-orientierten Analyse der Handlung, des Plots und einiger Plotmuster, ist Andrea Gutenberg von einer “wechelseitige[n] Abhängigkeit von Plot bzw. story-line und Geschlechtszugehörigkeit der handelnden Figur” 109 ausgegangen. Auf der Ebene der Darstellung, laut Gutenberg, werden Plotelemente selektiert auf der paradigmatischen Achse und kombiniert “Schlussgebung” 110 auf der oder syntagmatischen die Achse. Positionierung des Die Autors paradigmatische am Ende der Erzählung, ist sowohl in der Karawanserei als in der Tochter des Schmieds mit der Migration verbunden. Die Hauptfiguren verlassen die bekannte Umgebung, um in Deutschland arbeiten zu können. Die Hauptfigur der Karawanserei macht das jedoch, um sich selbst zu entdecken; sie geht niemanden hinterher. Die Hauptfigur der Tochter des Schmieds geht ihrem Mann hinterher, er wollte eigentlich nur wegen des Geldes nach Deutschland ziehen. Diese zwei Schlussgebungen könnte man als zwei mögliche hängt Legitimationen mit der der Migration bestimmen. “Selektionsentscheidungen des Jene Legitimation Autors/der Autorin” 111 zusammen, der/die das für ihn/sie wichtigste Motiv der Auswanderung den deutschen Lesern verständlich machen wollte. Die Selektionsentscheidungen von Özdamar und Özdogan sind im Wesen nicht so verschieden, aber die Art und Weise der Kombination ist ja ganz anders. Die zwei Romane enden zwar mit der Migration der beiden Hauptfiguren nach Deutschland, aber bei Özdamar wird wenigstens impliziert, dass der Zug sie nur in eine neue Karawanserei bringt. Ihr Abenteuer fängt sozusagen erst an; die Selbstentwicklung ist nicht zu Ende. Im Gegensatz zu jenem offenen Ende, 109 Andrea Gutenberg: “Handlung, Plot und Plotmuster.” In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart: Metzler. 2004.(=Serie Sammlung Metzler, Bd.344) S. 98- 121, hier S. 99. 110 Ibid., S. 104. 111 Ibid. 52 hat Özdogan mit der Auswanderung von Gül das tatsächliche Ende der engen Beziehung zwischen Gül und dem Schmied betonen wollen, so bin ich der Meinung. Die Tochter des Schmieds ist am Ende völlig unabhängig von ihrem Vater, aber sie ist im Wesen nicht glücklich. Die Trennung von der Familie wird vielmehr negativ bewertet. Während die Emanzipation für die Hauptfigur Unabhängigkeit Todeswunsch der Karawanserei von am Gül mit Ende des nur Glückliches fundamentaler Buches ist impliziert, ist die verbunden. Der eine nüchterne Bitte um Einsamkeit wie Erlösung. Man könnte sagen, dass die Migration für die Erzählinstanz der Karawanserei Ausgangspunkt eines neuen, ganz individuell erlebten Lebens gewesen ist, während sie von die Erzählinstanz in der Tochter des Schmieds mehr als Endpunkt eines goldenen, kollektiv orientierten Zeitalters beschrieben wurde. Die Kombination Gutenberg “durch Relationen, durch von zeitliche, Handlungen räumliche, Phasenbildung, Motivationsrelationen” 112 und/oder und biografische Kausalitätsin Ereignissen eine bzw. Art und ist nach thematische Bedingungsrelationen Konfiguration eingerahmt worden. Die Karawanserei ist in dem Sinne eher räumlich und biografisch: es handelt von den Ereignissen eines Mädchens (und ihrer Familie) an verschiedenen Orten, auβerdem basiert die Erzählung auf der Kindheit von Özdamar und ihren persönlichen Erfahrungen. Die Tochter des Schmieds ist vielmehr zeitlich und thematisch: es handelt vom Handel und Wandel einer Familie im Laufe der Zeit; das Geschehen basiert hier vielmehr auf den groβen Themata des Lebens: der Ehe, dem Tod, der Elternschaft u.a. Gutenberg redet übrigens auch über “makrostrukturelle Konfigurierungstypen wie z.B. Progression, Stasis, Teleologie, Zirkularität, Kontingenz, Konzentrik, denen Teleologie gelten, und Merkmale. und Zyklik, Progression Diskontinuität Die Dialogizität als sowie auch Diskontinuität ist bei Simultaneität” 113, oder männlich konnotierte Wiederholung als Özdamar in der in Strukturen frauenzentrierte Tat in den Vordergrund gerückt: die Tradition des männlichen Patriarchats, die mit 112 113 Gutenberg: “Handlung, Plot, Plotmuster”. S. 104 Ibid., S. 104. 53 dem Heiratsbund jeweils besiegelt wird, wird hier im Gegensatz zur Geschichte von Özdogan nicht weitergesetzt: die Ich-Erzählerin will (und muss sogar von ihrer Mutter) zuerst studieren und dann arbeiten, von einer Heirat ist überhaupt nicht die Rede. Wiederholung gibt es nur noch in den abergläubischen Ritualen, die die Großmutter und das junge Mädchen miteinander verbinden. Die arabischen und türkischen Gebete und Rituale sind jedoch nur nach der Form eine Wiederholung als eine Bestätigung der Tradition. Nach ihrer Inhalt sind sie aber vielmehr eine ganz dynamische Widerspiegelung der Entwicklung des Mädchens. Das Mädchen setzt die Tradition der Großmutter weiter, aber sie macht etwas ganz Persönliches daraus. Die Plottypologie von Gutenberg handelt dann weiter vor allem über frauenzentrierte Plotmuster, die zum Beispiel in den Romanen des 20. Jahrhunderts vor Handen sind. Zu der auf Zusammenführung und wechselseitige Ergänzung eines gegengeschlechtlichen Paares hinauslaufende Plotausrichtung gibt es zwei Alternativen: Erstens die Konzentration der Protagonistin auf sich selbst, d.h. auf die eigene Vergangenheit oder die gegenwärtige bzw. zukünftige Selbstentfaltung und -verwirklichung in psychologischer (spiritual quest) und/oder beruflich-sozialer Hinsicht (social quest) und zweitens die Ausrichtung weiblichen Begehrens und des Plotgeschehens auf die Interaktion verschiedener Figuren innerhalb der Familie. 114 Trotzdem ist die Typologie nicht ohne weiteres auf die Karawanserei zutreffend; es ist eine Kombination der beiden Alternativen. Die Ich- Erzählerin in der Karawanserei konzentriert sich auf die Figuren ihrer Familie únd auf ihre Selbstentfaltung. Am wichtigsten ist jedoch nicht die Interaktion verschiedener Figuren innerhalb der Familie, sondern die kindlich-naive Perspektive, mit der sie jene Handlungen beschreibt. Der Familienplot ist zum Beispiel mehr oder weniger in der Erzählung anwesend, aber die Ereignisse innerhalb der Familie sind nicht wichtiger als die Handlungen von Randfiguren und Nebenfiguren in der Erzählung. Ihr eigenes marginales Benehmen hat dafür gesorgt, dass die Handlungen der Nebenfiguren im Zentrum unserer Aufmerksamkeit angelangt sind. Ihre Familie umfasst in dem Sinne auch die Huren, die Verrückten, die politisch orientierten Freundinnen ihrer Mutter usw. Die Perspektive des Mädchens hat das Konzept einer Familie erweitert und umgestaltet: alle Tanten und 114 Gutenberg: “Handlung, Plot, Plotmuster.” S. 112. 54 Onkel und Ablas (Schwestern) zählen auch mit, und diese umfangreiche Gruppe repräsentiert eben die Pluralität der türkischen Bevölkerung. Der Schwesternplot, den Gutenberg in der Analyse erwähnt, ist auch auf keineswegs traditionelle Art und Weise in der Geschichte dargestellt. Die Großmutter ist eigentlich wie eine Schwester für die Ich-Erzählerin; dass steht in schroffem Gegensatz zu der familiären Beziehung der Schwestern in der Tochter des Schmieds und ihrer gemeinsamen Abneigung gegenüber der Großmutter Zeliha. Die Großmutter Ayşe ist in der Karawanserei eine Schwester für die Hauptfigur, sie fühlt sich am tiefsten mit ihrer Großmutter “Zungenhure” 115, charakterisiert wie wurde. verbunden. auch Es die gibt Fatma nennt Ich-Erzählerin eine Menge schon Ayşe auch von ihrer Ähnlichkeiten eine Mutter zwischen der Großmutter und der Ich-Erzählerin, die die Generationskluft überbrücken und eine gleichartige Mischung zwischen Naivität und Weisheit aufweisen. Sogar die körperliche Haltung der beiden ähnelt sich: Am besten war es, wenn ich zusammen mit meiner Großmutter auf der Straße ging. Großmutter lief schlingernd, ich lief auch schlingernd, sie sagte: “Schlingere nicht so, Schwester.” Auch ich sagte: “Schlingere nicht so, Großmutter.” So schlingerten wir weiter […] 116 Der “Mutter-Tochterplot” 117 ist in der Karawanserei ebenfalls auf eine ganz andere Art und Weise wirksam, als die Definition von Gutenberg in der Analyse expliziert hat: […] die Gefahr von symbiotischen Mutter-Tochter-Beziehungen [wird] durch ihre negativen Konsequenzen für die stagnierende oder regressive Persönlichkeitsentwicklung der Tochter dargestellt. […] die Übermacht der Mutter [steht] häufig einer erfolgreichen Identitätssuche der Protagonistin im Wege […]. 118 Meiner Tochter eine Meinung nach positive, nachsichtige Freiheitsbeschränkung neigende ist die Beziehung und zwischen keineswegs Beziehung. Die zur Mutter Mutter und Tradition und hat allerdings immer von ihrer Tochter verlangt, dass sie sich nicht verheiraten würde und möglichst lang zur Schule gehen würde. Trotzdem reagiert Fatma manchmal ziemlich paradox; untenstehendes Zitat verrät die offene, progressive Einstellung der Mutter: 115 Özdamar: Karawanserei. S. 257. Ibid., S. 259. 117 Gutenberg: “Handlung, Plot, Plotmuster.” S. 115. 118 Ibid., S. 114. 116 55 “Siehst du, meine Tochter, siehst du, das ist die Welt. offener Platz ist, alle Menschen stehen dort und miteinander.” Dann sagte sie wie meine Großmutter: kann man nicht essen, die Haut von Menschen kann Mensch mehr als eine süße Zunge?” 119 Die Stelle könnte interpretiert werden als Denke dir, daß die Welt ein waschen sich und sprechen “Das Fleisch von Menschen man nicht anziehen. Hat ein eine Anspielung auf die Karawanserei, in der man sich als Mensch frei bewegen darf und nichts als die Zunge braucht, um glücklich zu sein. Vielleicht hätte sie ihrer Tochter sagen wollen: du sollst deine literarischen Talente richtig benutzen, dafür sollst du nicht unbedingt hier in der Türkei bleiben. Im Gegensatz zur progressiven Einstellung will sie ihre Tochter nicht verlieren, die mütterliche Liebe und Sorge sind dafür zu stark: Ich sagte: “Ich werde nach Deutschland gehen.” Mutter sagte: “Wenn du gehst, hast du nicht mal ein Gehirn, das man über einen Schwanz schmieren kann.” “Ich werde gehen.” Mutter sagte: “Trennungsschmerz sind vierzig Nägel, die in einen Körper geschlagen werden.” […] Mutter sagte: “Nimm das Geld, nimm das Wort Deutschland nicht mehr in den Mund.” 120 Das einzige Plotmuster von Gutenberg, das schon anwendbar ist, wurde im Zitat “männerzentrierte[n] über das “frauenzentrierte Variante[n] Pendant” von Freundschaftsplots” 121 des herbefohlen: Im Vergleich zu Männergemeinschaften wirken Frauengemeinschaften […] eher wie marginale Antigesellschaften, deren Mitglieder als allein stehende Frauen von gesellschaftlicher Macht und sexueller Erfüllung ausgeschlossen, aber auch dem patriarchalen Einflussbereich entzogen sind. 122 Die Mutter der Ich-Erzählerin ist keine allein stehende Frau, aber sie ist trotzdem zum größten Teil dem Einfluss ihres Mannes entzogen. Die Arbeitslosigkeit von Mustafa hat eine Art Machtsvakuum verursacht. Seine Autorität ist geschwächt: sein Aufenthalt in Nightclubs, seine verschwenderischen Launen und unvorsichtigen Darlehen sind alle Zeichen der unzulänglichen Verantwortlichkeit der Vaterfigur. Im Gegenteil zum Schmied in der Erzählung von Özdogan, ist hier vielmehr die Rede von menschlichem (schwächem), unüberlegtem Benehmen und realistischen Handlungen anstatt von Idealisierung. Die Mutter und Großmutter sind zwar durch die aussichtslose Lage von Mustafa unglücklich, zugleich aber haben sie eine größere Freiheit als andere Frauen. Sie hätten normalerweise keinen 119 Özdamar: Karawanserei. S. 263. Ibid., S. 369-370. 121 Ibid. 122 Gutenberg: “Handlung, Plot, Plotmuster.” S. 117. 120 56 Zugang zur Öffentlichkeit, aber durch die dauernde Abwesenheit von Mustafa nutzt Fatma ihre Chance aus, sich immer mehr in den öffentlichen Bereichen aufzuhalten: Mutter sagte: “Sidika Hanım, du bist Witwe, ich bin auch Witwe, Mustafa hat den Weg nach Hause vergessen, laß uns vom Schicksalengel einen seiner Tage klauen.” […] Wir blieben bis Mitternacht im Bad. Uns erwarteten zu Hause keine Männer. 123 Die Erzählerin beschreibt mit komischen Formeln, wie die Frauen “ihren Würmer spazieren richtig [geführt [haben]” 124 ausgeschüttelt haben]” 125, wie sie mit oder anderen ihre “Schachtel Worten in den öffentlichen Bereichen spazieren gegangen sind und gegen den Wunsch des Ehemannes nicht nur brav zu Hause geblieben sind. Das Mädchen lernt, dass die Frauen oft zu ihrem Mann lügen, und sie macht dasselbe auch schon früh gegenüber ihrem Vater. Es wird ja auf humoristische Weise mit der Scheinautorität von Mustafa umgegangen: die Großmutter und die Hauptfigur sagen immer wieder, dass sie entweder zum Atatürk gegangen sind oder zum einen oder anderen Heiligen. Patriotismus und Religion werden hier also als Ausrede benutzt, um den Mann des Hauses zu beruhigen. “Allah sei Dank, daß es so viele heilige Männer gibt, so lüften alle Frauen im Frühling ihr in Mottenpulver gelegtes Leben und ihre Schachteln.” Wenn die Frauen nach ihren Männer [sic] nach Hause kamen, fragten die Männer: “Wo seid ihr geblieben?” Dann zogen die Frauen ihre Wörter sehr in die Länge, machten ihre Münder klein und sagten: “Wir sind zum heiligen Grabe von Hyzanthi Efendi gegangen.” Dann schwiegen die Männer. 126 Je älter sie wird, je mehr sieht sie ein, dass ihre Eltern auch zur ‘lügenden Welt’ gehören. Die alten sozialen Strukturen der Familie sind nur noch leere Hüllen, in denen Männer und Frauen nicht sosehr komplementär sind (sowie zum Beispiel in der Tochter des Schmieds), sondern eher unabhängig voneinander funktionieren. Die moralischen Grenzen der Männer- und Frauengemeinschaft werden jeweils erweitert, so dass es nur noch ‘Grauzonen’ gibt, in der Frauen und Männer sich so frei wie möglich zu bewegen versuchen, in denen sie ‘einen weiteren Tag vom Schicksalengel klauen’. Die Männer sitzen im Café, die Frauen im Badehaus 123 Özdamar: Karawanserei. S. 261. Ibid., S. 174. 125 Ibid., S. 220. 126 Ibid,. S. 247. 124 57 oder auf dem Friedhof; zu Hause gibt es fast keine Geborgenheit oder Ruhe mehr. Mein Vater ging weiter zum Café und zum Nightclub, meine Mutter sagte: “Euer Vater ist zu seinem Arbeitsplatz gegangen.” Wir wußten, wo er arbeitete, wir holten ihn manchmal von seinem Arbeitsplatz, er spielte dort Poker. 127 Die Haltung von Mustafa ist kennzeichnend für den modernen Mann in den sechziger Jahren. Wie Fuat in Der Tochter des Schmieds ist er auf der Suche nach Abenteuer, nach Reichtum und flüchtigem Glück. Er ist ein Casanova, der die Frauen des Hauses mit sympathischem Benehmen will charmieren. Trotzdem fällt auf, dass Mustafa – anders als Fuat – seine Frau nicht unterdrückt oder belügt: es gibt eine Art stillschweigendes Abkommen zwischen den beiden, weil sie zu zweit Opfer der modernen, ‘lügenden’ Welt sind. “Hanım, ich gehe zum Café, heute wollte der soundso-Bey kommen, er ist ein sauberer Mann, vielleicht leiht er mir Geld. Fatma mein Lämmchen, geh auch du raus.” […] Zwischendurch kam er nach Hause, trank seinen Rakı und sagte: “Fatma, trink du auch.” 128 Es wird vielfach darauf hingewiesen, dass Mustafa noch die äußere Macht in der Familie hat, aber dass er seine restliche Macht durch sein Macho-Benehmen unterminiert. Er nennt sich selbst naiv, aber er sitzt als naiver, braver Mensch doch jeden Tag im Nightclub. Er belügt also vor allem sich selbst, weil er eigentlich lieber faulenzt und sich für einen reichen Mann ausgibt, als dass er sein Benehmen zu bessern versucht. Obgleich Regula Müller noch behauptet, dass “seine Rolle als Familienoberhaupt nicht in Frage gestellt [wird]” 129, bin ich nicht dieser Meinung. Das obenstehende Zitat, über den angeblichen Arbeitsplatz von Mustafa, zeigt dem Leser, wie sogar die junge Hauptfigur sich nicht hinters Licht führen lässt: sie weiß ganz genau, dass ihr Vater seine Verantwortlichkeit in der Familie nicht aufnimmt. Das zeigt uns auch folgendes Zitat: Wenn mein Vater unsere Schulzeugnisse oder Hefte unterschrieb, schaute er nicht auf die Noten, er schaute mir ins Gesicht und sagte: “Wo soll ich unterschreiben, meine Tochter?” Einmal sagte ich zu ihm: “Ich gehe in die 9. Klasse.” Ich ging aber in die 7. Klasse. Er sagte: “Bravo, meine Tochter, lerne, meine Tochter, für dieses Land. Werde ein Mensch, werde nicht so ein Esel wie dein Vater. 130 127 Özdamar: Karawanserei. S. 250. Ibid. 129 Müller: “Türkische Frauengeschichte(n).” S. 141. 130 Özdamar: Karawanserei. S. 250. 128 58 Hier wird ganz klar gemacht, dass ihr Vater nur noch eine Art Scheinverantwortlichkeit trägt und, wie Müller auch behauptet, dass “der Vater sich nur auf Kosten seiner Frau erhalten [kann]” 131. Die Unterschrift der Schulzeugnisse ist eine Formfrage geworden, es geht nicht mehr um den Inhalt. Das Patriarchat ist im Wesen wie eine Unterschrift: es ist nur formell, hat inhaltlich jedoch an Kraft eingebüßt. Diese Diskontinuität zwischen dem alten Patriarchat und der modernen Gesellschaft beeinflusst in hohem Maße das Benehmen Selbstmordversuch der Mutter, macht. Sie so wird dass Fatma von der letztendlich Gesellschaft einen ständig überfordert, weil sie ihren richtigen Platz in der Frauengemeinde nicht mehr findet. Eine Frau ohne Freundinnen wird fast dazu gezwungen, jeden Tag zu Hause zu sitzen. Die soziale Bindung, die Frauen früher überall hatten, ist in der modernen Stadt fast völlig verschwunden. Auβerdem gibt esür f sie zu Hause auch nichts mehr zu tun: sie haben keine Möbel mehr, kein Essen mehr zum Kochen. Ayşe hat jedoch wegen des Bündnisses mit ihrer Enkelin eine Art und Weise gefunden, mit dem modernen Lebensstil umzugehen und sich trotzdem zu amüsieren, obgleich sie auch allein ist. Die ‘emanzipierte’ Handlung der Großmutter ist im Großen und Ganzen aus dem pikaresken Benehmen des Mädchens entstanden: dadurch, dass die Ich-Figur sich immer mehr in den Randbereichen der Gesellschaft aufhält, geht die Großmutter auch öfters spazieren. Sie beeinflussen sich außerdem gegenseitig: das junge Mädchen wäre vielleicht auch nie so abergläubisch gewesen, ohne den Einfluss der Großmutter. Für die Mutter und den Vater sind Religion und Aberglaube nicht sehr wichtig, während die Großmutter und abergläubisches Ritualhandlungen die Erzählerin Bündnis auf dem schon geschlossen Friedhof am Anfang haben, zusammen der dadurch Geschichte ein dass sie die haben. Das ausgeführt Austauschen von Erfahrungen und Kenntnis zwischen der Großmutter und dem Mädchen sind in der Geschichte in den Vordergrund gebracht. Die Erzählungen der Großmutter und ihre Rituale sind für das Mädchen die einzigen Sachen, die Stabilität aufzeigen. Trotzdem wird am Ende der Geschichte deutlich gemacht, dass auch die Märchen keine Ruhe mehr 131 Müller: “Türkische Frauengeschichte(n).” S. 141. 59 bringen werden: die Tradition der mündlichen Überlieferung wird unterbrochen, dadurch dass die Erzählerin einsieht, dass sie das Märchen über die Groβvater von Ay șe, den Dorfmoschee -Hodscha, schon kennt. Es stellt sich heraus, dass die türkische Kultur für die junge Frau keine Geheimnisse mehr hat. Auf einmal begreift sie auch, dass ihre Großmutter auch Schwächen hat: die Enttäuschung, die diese mit dem erstaunten Ausruf “O” zeigt, als sie entdeckt, dass sie die Geschichte nicht mehr zu erzählen braucht, weist auf die Unterdrückung der starken Nostalgie nach der Vergangenheit. “Großmutter, ich kenne diese Geschichte.” “Woher kennst du sie denn? Hast du meinen Großvater im Traum gesehen?” “Meine Mutter hatte sie mir erzählt.” “O”, sagte Großmutter. “Der Mund deiner Mutter soll gesund bleiben. Das hat sie gut gemacht.” Ich merkte auf Ĭstanbuler dem Friedhof, daß meine Großmutter auch einmal ein Kind gewesen war. Ich hatte immer gedacht, sie wäre als alte Frau geboren. 132 Die Großmutter ist also in den Augen der Ich-Erzählerin plötzlich nicht mehr die starke ‘Lebensmentorin’, unbestreitbaren Quellen der verschwiegene Nostalgie, Kenntnis Stolz und ihre mehr, Erzählungen sondern kindliche deuten sind eher Bewunderung. keine auf Die Erzählungen sind deswegen auch nicht total einwandfrei; die mündliche Tradition ist unvollständig, selektiv und sie beruht auf einer Mystifizierung von alltäglichen Ereignissen und Figuren. Die Erzählerin ist eigentlich zu alt und sogar zu klug geworden, um jene Geschichten als zuverlässige Quellen von Wahrheit und Kenntnis zu betrachten. Die Großmutter ist ja nicht als alte Frau geboren, das heißt: sie hat ihre Weisheiten ebenfalls von jemandem bekommen; sie hat die meisten Geschichten wahrscheinlich auch nicht selbst erlebt, sondern hat sie nur vom Hörensagen. In diesem Moment sieht die Ich-Erzählerin ihre Großmutter und sich selbst vielleicht nur noch als verschwindend kleine Glieder in der Erzählungskette. Die uralten Geschichten unterstützen die Plotentwicklung, aber trotzdem funktionieren sie eher als kontrastive Betonung der überwiegend stabilen Vergängenheit im Gegensatz zum rasch wechselnden Kontext des Alltags. Das Erzählen hat eine saubernde, erziehende Funktion, denn es soll die Erzählerin mit der Andersartigkeit des modernen Alltags konfrontieren: 132 Özdamar: Karawanserei. S. 377. 60 die Kontinuität des Weitererzählens betont die Diskontinuität zwischen alt und neu. Jene Diskontinuität wird noch einmal extra in den Vordergrund gestellt, dadurch dass die Hauptfigur eine Vorliebe fürs französische Theater entwickelt. Die orientalistischen türkische) Überlieferung Märchen werden und jetzt die orale (arabische der westlichen, und schriftlichen Überlieferung entgegengesetzt. […] schwor ich mir, daß ich später in meinem Leben Schauspielerin werde. Und wenn ich in der Nacht in unserer engen Steinhauswohnung auf dem Korridor in meinem Bett mit der Katze über meiner Brust lag und für die Toten betete, betete ich auch für Molière die arabischen Gebete. 133 Meiner Meinung nach enthält dieses Zitat den Anlass für die spätere Abfahrt nach Deutschland: weil sie zufälligerweise die Texte von Molière kennenlernt, sieht sie gleich ein, dass die enge, türkische Gesellschaft sie (oder: ihre Kreativität) unterdrückt und bedrückt. Die enge Steinhauswohnung und die Katze auf ihrer Brust können hier als Metapher für die Unterdrückung ihrer Freiheit gesehen werden. Die teleologische Entwicklung und Progression spielen also doch eine Rolle in dieser Geschichte, trotz des so genannt männlichen Charakters jener Plotmuster. Der teleologische Plot entfaltet sich allmählich, dadurch dass die emanzipierte Haltung der Ich-Figur zur Befreiung und Progression führt, anstatt einer zyklischen Wiederholung von zum Beispiel islamitischen oder türkischen Bräuchen. Die Bedrückung, die sie auf einmal fühlt, mündet aber zuerst in einer ernsthaften Identitätskrise, die noch stärker wird, weil das Mädchen gerade in der Pubertät steht. Sie fängt an zu schreiben, kann aber mit ihren dichterischen Eltern oder Qualitäten ihrer werden Großmutter unterschätzt, nicht weil darüber sie reden, scharf mit ihre der Nüchternheit der älteren (analphabetischen) Generationen kontrastieren: Ich las dem Onkel die Sätze aus dem Wassermelonenzimmer vor. Meine Mutter schämte sich, sie sagte: “Diese närrischen Wörter werden ihren dünnen Körper noch dünner machen.” Der Onkel sagte: “Aman Fatma, bist du närrisch? Kauf ihr Bücher der klassischen Dichter.” 134 Der Onkel ist somit der einzige, der ihr Talent anerkennt. Das ist für die IchErzählerin der Anlass, sich gleich in ihn zu verlieben. Der sexuelle Trieb, den sie jetzt erfährt, macht sie noch närrischer. “Ihr Feuer sollte jemand 133 134 Özdamar: Karawanserei. S. 273. Ibid., S. 328. 61 löschen” 135, behauptet Ay ș e, und obgleich die Großmutter am liebsten ihre Enkelin verheiraten würde, verrät ihre romantisch-naive Gelassenheit, dass Ayşe sich noch sehr gut an ihre eigenen Verliebtheiten erinnern kann. Die wunderschöne untenstehende Beschreibung der ‘süßen Bonbon-Mimik’ soll den Leser davon überzeugen, dass Ayşe noch ein junges Herz hat und somit ihre Enkelin sehr gut versteht: Ich erzählte meiner Großmutter, daß ich einen Jungen liebte, der Klarinette spielte, weil sie ein Saxophon nicht kannte. Großmutter löste ihr Kopftuch vom Kinn, das Kopftuch hing über ihrer Schulter, die Wangen rosa, und ihr Mund bewegte sich so, als ob ich ihr gerade einen süßen Bonbon zum Lutschen gegeben hätte. Großmutter sagte: “Ist er schön?” “Sehr schön.” Großmutter sagte: “Wenn er schön ist, nehmen wir ihn als Mann zu dir, du bist auch schön. Zwei Nackte gehören ins selbe Bad.” Ich sagte: “Nein, Großmutter, wir trinken nur Tee.” 136 Ayșe löst gleich ihr Kopftuch, obgleich sie sonst zwei Kopftücher übereinander trägt, was beinhaltet, dass sie normalerweise eher altmodisch, abergläubisch und gehemmt ist. Das Kopftuch lösen ist in dem Sinne Ausdruck einer kindlichen Aufregung, als ob sie sich in diesem Moment sehr stark an die frühere Freiheit aus ihrer Jugend erinnert, an die Zeit, in der sie noch kein Kopftuch tragen musste. Ihr altmodisches, pragmatisches Benehmen soll jetzt dem romantischen Gefühl nachgeben. Die Emotion von Ayse ist jedoch anders als die nüchterne Reaktion der Mutter, die lieber nicht will, dass ihre Tochter sich von den Männern zu einem unfreien Lebensstil verführen lässt. Dafür ist die Hauptfigur jedoch viel zu unabhängig: gleich nachdem ihr Bruder Ali in die Schweiz gegangen ist, fühlt sie wieder den unheimlich starken Drang nach Freiheit, plötzlich “merkte [sie], dass [ihre] Füße nicht mehr am Boden waren.” 137 Sie lässt sich die Haare rasieren, um ihre Sehnsucht nach freiem Benehmen zu befriedigen und erneut spürt sie dieselbe Art Nervosität, die sie einst gefühlt hat, bevor sie in der Psychiatrie gelandet war. Ihre Nervenkrankheit ist – wie bei Molière 138 – zwar eingebildet und gewissermaßen inszeniert, aber es ist trotzdem das Symptom einer innerlichen Unzufriedenheit. 135 Ibid., S. 330. Özdamar: Karawanserei. S. 337. 137 Ibid., S. 364. 138 Der eingebildete Kranke von Molière (1673) handelt von einem Hypochonder, der sich von zahlreichen Ärzte versorgen lässt. Die Ärzte kümmern sich aber nicht sosehr um seine Gesundheit, als um sein Geld. Die Ich-Erzählerin hat eine Rolle in diesem Stück gespielt. 136 62 Die Nervenkrankheit und ihr hyperenergetisches Benehmen stehen gerade gegenüber den depressiven Launen und dem Mangel an Energie der Mutter. Sowie die Mutter von der Gesellschaft überfordert und deswegen auch depressiv wird, so wird das Mädchen nicht genug stimuliert oder motiviert, so dass sie letztendlich nervenkrank wird. Da sie sehr resolut für sich selbst geschworen hat, sie werde Schauspielerin werden, begreifen wir, dass jene Nervenkrankheit erst in einer neuen, kreativen Umgebung aufgelöst werden kann. Die enge Atmosphäre der türkischen Gesellschaft war damals noch nicht progressiv genug, als dass sie ein richtiger Ort für sie bieten könnte; es gab einfach noch zu viel Konformierung und Indoktrination. Die Identitätskrise hat selbstverständlich damit zu tun, dass sie das Eigene nicht mehr als normal anerkennt. Die Selbstverfremdung ist so abrupt, dass es zu psychischen Problemen führt. Die Naivität und Unbesorgtheit, die sie einst in der Übergangszone zwischen der Kindheit und dem Früherwachsensein gekannt hat, sind jetzt verschwunden. Sie bekommt Angst vor dem Eigenen: das sehen wir indirekt in ihrer Angst vor dem Atatürkmausoleum, sowie in der Angst vor der Schule. Sie sieht allmählich ein, dass sie nur einen verschwindend kleinen Teil der Welt kennt; ihr beschränkter Erfahrungshorizont wird sie daran hindern, ihre literarischen Qualitäten zu entwickeln. Sie will nicht alles kennen, sondern sie will über alles schreiben können: Ich ging wieder in das Gymnasium, es war die gleiche Schule, der gleiche Garten, aber irgendwas war zu groβ, waren die Lehrer zu groβ? Die Kreide war zu groβ. Die Namen, die die Schüler auf ihre Tische gekritzelt hatten, warenβ. auch zu gro Beatles, Beethoven. […] 139 Zu diesem 10-Finger-Tipp-Kurs kamen auch zwei Universitätsschulerinnen. Sie erzählten von Mozart. Der Name machte mir Angst. Wie schrieb Mozart? 140 […] man Sie bekommt also Angst zum Schreiben, Angst für die fremden Wörter, die nach nichts verweisen, weil der türkische Kontext zu beschränkt ist für solche groβen Wörter. Die Schule vermittelt jetzt Kenntnis über den Westen, aber sie ist noch zu sehr in den türkischen Kontext eingebettet; sie hat ihre Strukturen noch immer nicht weiterentwickelt. Deswegen sind die 139 140 Özdamar: Karawanserei. S. 364. Ibid., S. 368. 63 Kreider also zu groβür fjene Schule, die neue K altmodischen pädagogischen Strukturen enntnis passt nicht zu den hinzu. Die Indoktrination, der Patriottismus und die bekannten sozio-kulturellen (patriarchalen) Strukturen der türkischen Gesellschaft kommen ihr jetzt fremd vor. Sie kennt sogar ihren Bruder Ali nicht mehr, der jetzt seine Autorität des ältesten Sohnes gelten lässt und seiner Schwester verbietet, noch in seiner Nähe zu laufen. Aus dem Dunklen kam eine fremde Stimme. Ich dachte, in der Kellerwohnung in der unbarmherzigen Grabmalstraße gibt es einen Geist, der halb Mann, halb Frau und ein Riese ist. Es war mein Bruder Ali. Ali hatte eine andere Stimme gekriegt, er wollte nicht mehr neben mir auf der Straße laufen. 141 Es fällt jedoch auf, dass Ali nicht sosehr nach dem islamitischen Gesetz handeln wollte, in dem die Ehre der Familie vom ältesten Sohn beschützt werden soll, sondern dass er vielmehr Angst davor hat, dass die Mädchen denken würden, seine Schwester sei seine Geliebte. Es ist also nur eine Strategie zum Verführen der Frauen. Trotzdem wird die junge Frau sich allmählich bewusst, dass sie in der Türkei als Frau immer weniger als die Männer sein wird. Ihre emanzipatorische Anpassungsfähigkeit hat ihr lange Zeit geholfen: als sie zum Beispiel die Tücher ihrer Tage in den Wassermelonenraum vor den Männern des Hauses verstecken muss, macht sie aus diesem Raum letztendlich einen Ort der Kreativität, in dem sie zu schreiben anfängt. Als die Tantentücher in diesem sehr kleinen Wassermelonenraum hingen, fing ich an, darin zu schlafen. Ich machte in der Nacht Kerzen an, saß im Bett, schrieb Sätze, hing die Blätter zwischen die nach Soda riechenden Tantentücher an die Wäscheleine, die Wäsche roch sauber, ich roch nach Melonen. Ich roch mich gerne, roch das Papier gerne, ich ließ mir in dem Barbierladen, in den mein Vater ging, meine Haare nicht auf 0, aber sehr kurz, auf Nr. 1 schneiden. 142 Durch ihre emanzipierte Haltung macht sie immer aus der Not eine Tugend, bis sie dazu jedoch am Ende keine Kraft mehr hat. Sie kann sich letztendlich nicht mehr an der Hoffnung aufrichten: sie “versuchte in den Himmel zu klettern, der Himmel war steil.” 143 Vorher hatte sie sich noch an den Worten ihres Vaters aufgerichtet, als er sie während ihrer Krankheit zu 141 Özdamar: Karawanserei., S. 323. Ibid., S. 326. 143 Ibid., S. 366. 142 64 trösten versuchte. 144 In dem Moment, in dem sie keine Hoffnung mehr hat, sagt sie ihren Eltern schließlich, dass sie nach Deutschland gehen wird. Der Roman ist teleologisch aufgebaut, aber anders als bei Özdogan wird nicht gezielt auf die Anpassung an die Normen und Werte der soziokulturellen Umgebung. Es wird schon früh suggeriert, dass die Hauptfigur immer aus der Reihe tanzen wird. Es wird unterstellt, dass die Keime der Kreativität und der literarischen Qualitäten schon von jung an in ihr anwesend sind. Ihre ganz persönliche, kindlich-naive Wahrnehmung der Wirklichkeit kulminiert so in eine Art Dichtung-Wahrheit, die sie dazu anregt, zu schreiben. Die orientalistischen vonș Ay e Erzählungen und Fatma und die okzidentalen, ‘klassischen’ Erzählungen führen zum eigenen Schreibstil und veranlassen sie dazu, ihre eigenen Erzählungen zu schreiben. Durch die ganze Geschichte werden vor allem die Übergangsmomente betont, die jedoch – im Gegensatz zu den Schwellenerfahrungen in der Tochter des Schmieds, sowie die Ehe, die Schwangerschaft usw. - nicht universal oder kollektiv bedingt sind, sondern ganz persönlich und ‘anders’ sind. Es gibt immer einen emanzipatorischen Bruch mit der normativen Umgebung, dadurch dass sie in jedem Moment auf der Schwelle zwischen zwei Welten steht: sie ist nie an einem Ort, sondern immer an zwei Orten zugleich. Die Distanz zur männlichen und zugleich auch zur weiblichen Gemeinschaft macht, dass sie besser dazu im Stande ist, den Vielfalt und Kompliziertheit der Gesellschaft zu beschreiben. Als ungeborenes Kind ist sie nicht nur im Uterus, sondern lebt sie auch schon zwischen den Soldaten. Als Baby befindet sie sich auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, als Mädchen lebt sie in einer Männerwelt, als junge Frau lebt sie zwischen Himmel und Erde, denn ihre Füße berühren die Erde nicht mehr. Die ‘Zigeunerin’ hat uns vor allem beweisen wollen, dass alle Übergangszonen zwischen dem Eigenen und dem Fremden - als antithetische, mögliche Wirklichkeiten gegenüber dem konformierten und normierten Leben gelten können. Die Synthese des Fremden und Eigenen gibt es dann, dadurch dass man 144 die Normalität verfremdet und das Fremdartige normalisiert: die Ibid., S. 314. 65 Abfahrt nach Deutschland ist in dem Sinne für sie die am meisten heilsame Methode, sich wieder normal zu fühlen. Dadurch dass Özdamar ihre eigene Lebensgeschichte auf so persönliche Art und Weise beschrieben und inszeniert hat, könnte man schließen, dass das Endergebnis – der Roman – jene Synthese des Eigenen und Fremden verkörpert, denn die biographische Erzählung wirkt tatsächlich befremdend, während das Fremde fürs deutsche Publikum hier gerade als sehr erkennbar und normal beschrieben wurde. 8. Die Handlung und der Plot in der Tochter des Schmieds: Kontinuität und Zyklizität. Den Plot in der Tochter des Schmieds könnte man als einen Familienplot bestimmen, in dem die Ereignisse in der Familie des Schmieds behandelt werden. Die Kontinuität und Stabilität des Alltags spielen eine viel größere Rolle als in der Erzählung von Özdamar. Die Progression zu einer neuen, modernen Gesellschaft wird nur am Ende vorgeführt, als Plotentwicklung kausale ist jedoch Legitimation wenig der persönlich: Migration. in jedem Die Moment bekommt der Leser das Gefühl, dass die teleologische Entwicklung von A bis Z universal und kollektiv bedingt ist. Die Tugenden und Lasten des Lebens werden sachlich und nüchtern beschrieben, als ob der Mensch in seinem Leben immer mit der selben Problemen und Konflikten konfrontiert wird. Die Erzählerin aus der Karawanserei hat sich wenigstens noch gefragt, “warum die Menschen mal so, mal so sind. ” 145 Özdogan hat den Charakter von Menschen und ihre Handlungen jedoch als ziemlich vorhersagbar geschildert. Der starke Schmied kultiviert seine Umgebung, die schöne Fatma bezaubert jeden mit ihrer Schönheit, mit ihren Märchen und mit ihrem schlichten Benehmen, die böse Stiefmutter vernachlässigt die Kinder des Schmieds; der Schmied sagt 145 Özdamar: Karawanserei. S. 69. 66 sogar über Arzu, dass sie hässlicher als Fatma ist. Sein Feind Tufan fängt einen Streit an, anstatt mit dem Schmied über seine Probleme zu reden. Die schlechten Menschen lügen und betrügen (Zeliha, Özlem, Tufan) und die guten Menschen werden nur betrogen und belogen. Die Handlungen sind Darstellung mit anderen eingerahmt, die Worten in einer stark mit dem sehr Schwarz-Weißpositiven oder negativen Charakter von Leuten zusammenhängt. So wird schon am Anfang des Buches der unkomplizierte, schlichte Charakter des Vaters von Timur extra betont. Seine noblen Charakterzüge werden dem nüchternen Charakter von seiner Frau Zeliha auf unverholene Art und Weise entgegengesetzt. Timurs Vater war großzügig: genetisch die übertragen Timur von der verschwenderischen worden, Erzählinstanz denn auch Launen später öfters sind werden als wir offensichtlich sehen, freigebig und dass sogar verschwenderisch dargestellt wird. Wenn die kleinen Mädchen vor der Schmiede auf der Straße spielten, ging Necmi manchmal hinaus und rief sie zu sich. Dann nahm er sie mit zum Krämer, wo die Mädchen ihre Röcke schürzten und jedes eine Handvoll Süßigkeiten hineinbekam. Und Timurs Vaters hatte riesige Hände. Als er anfing, in der Schmiede zu arbeiten, hatte Timur diese Gewohnheit seines Vaters übernommen. 146 Es fällt auf, dass Özdogan durch die Plotentwicklung vor allem auf die Kontinuität des schlichten Charakters in der Familie des Schmieds fokussiert hat. Nicht nur die Komplementarität der Eltern, Necmi und Zeliha, wird oft betont, sondern auch die Tatsache, dass er ihre guten (körperlichen und mentalen) Eigenschaften geerbt hat, in Kombination mit einer tüchtigen und verantwortlichen Aufziehung. Es ist, als ob Özdogan uns hätte sagen wollen: das positive Gleichgewicht von nature-nurture hat zweifellos zum charismatischen Charakter des Schmieds geführt. Die freundliche Natur des Vaters und die sachliche, nüchterne aber zugleich auch sorgsame Natur der Mutter: durch diese Kombination hat die Erziehung von Timur viel abgeworfen. Die riesigen Hände des alten Schmieds sind zum Beispiel schon eine Anspielung auf die körperliche Kraft und vielleicht auch auf die 146 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 12. 67 Qualität seines Handwerkes. Die körperlichen Qualitäten des jungen Schmieds Timur sind auch von Anfang an betont: er ist ein starker Löwe und stolzer, breitschultriger Leiter. Trotz jener Kraft und seines stolzen Charakters, macht er doch, was von ihm verlangt wird: er gehorcht seinen Eltern. Der Schmied übernimmt die Schmiede von seinem Vater, ohne zu rebellieren. Er verheiratet sich nach dem Wunsch seiner Mutter mit Fatma, nachdem er sich jenem Plan ein wenig widersetzt hat. Die Tradition der türkischen Gesellschaft und die sozio-kulturelle Struktur besorgen dem Schmied keine Schwierigkeiten, wohl im Gegenteil. Er passt sich gefügig seinem Schicksal an, und weiß sogar das Beste aus der Situation zu machen. Es wird schon sehr früh deutlich gemacht, dass das Verantwortlichkeitsgefühl des Schmieds und seine Lebensfreude ihm zum Vorteil gereichen werden. Mit der richtigen Frau an seiner Seite, wird er ja ein möglichst bequemes Leben führen. Timur ist dankbar, er ist dankbar, und er glaubt, daß das Leben immer größer und schöner werden wird, solange Fatma an seiner Seite ist. Gestern noch war er ein kleiner Junge, und heute ist er mit ihr verheiratet und glaubt, daß sie alle Gefahren gemeinsam meistern werden. 147 Die Anpassungsfähigkeit an die Normen und Regel des Patriarchats finden wir übrigens nachher auch bei Gül zurück: die absolute Eingliederung in den System wird also von der älteren Generation an die jüngere Generation weitergegeben. Die Zyklizität des Lebens ist hier allerdings mehrmals akzentuiert worden: der Sohn erbt die Schmiede und sorgt für seine Mutter und Schwester nach dem Tod des Vaters. Seine Mutter spornt ihn dazu an, die Fatma zu heiraten. Er gehorcht seiner Mutter letztendlich; der Schmied und seine Frau führen eine glückliche Ehe und bekommen rasch drei Kinder. Es wird übrigens nach der Geburt des dritten Mädchens kein Geheimnis daraus gemacht, dass Timur auch einen Sohn bekommen will, um die Zyklizität aufrecht zu erhalten: -Vier Töchter, dem Herrn sei es gedankt. Er streicht Gül abwesend über den Kopf, läßt seine Hand in ihrem Nacken ruhen. – Doch wenn der Allmächtige mir auch einen Sohn schenken könnte…Er sieht auf Arzus Bauch, es ist das 147 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 28. 68 erste Mal, daß er diesen Wunsch laut vor seiner Ältesten äußert. – Wenn der Barmherzige mir einen Sohn schenkt, gelobe ich, daß ich aufhören werde zu rauchen. 148 Der Sohn ist der wichtigste Erbe, weil jener die Schmiede später übernehmen soll. Der Sohn bleibt außerdem als einziger in der Elternwohnung, um für die eigenen Eltern zu sorgen, während die Mädchen immer bei den Schwiegereltern einziehen. Die Mädchen nehmen auch eine Aussteuer mit, die dann selbstverständlich nur der Familie des Ehemannes zu Gute kommt. Die Komplementarität von Zeliha und Necmi, den Eltern von Timur, echot weiter in die Ehe von Fatma und Timur: Necmi war auch sehr verschwenderisch, Zeliha hat immer das Geld verwaltet. Als Timur die Schmiede übernimmt, tut sie für ihren Sohn dasselbe, so dass es den Anschein hat, dass die Frauen doch immer mehr common sense haben als ihre Ehemänner. Die Männer sind impulsiv, die Frauen sind berechnend. Die Aufgabenverteilung und unterschiedlichen Bereiche, in denen entweder der Mann oder die Frau die Verantwortlichkeit trägt, sind so stark von den sozio-kulturellen, gender-orientierten Strukturen der Gesellschaft beeinflusst worden, dass sie überhaupt nicht in Frage gestellt werden. Fatma verwaltet später auch das Geld von Timur, weil er offensichtlich keine Sparsamkeit kennt. Die Männer bekommen natürlich sowieso mehr Chancen, das Geld zu verschwenden, weil sie nicht immer zu Hause bleiben müssen. Die Vergnügungsfahrten von Timur sind ja Privilegien, die überhaupt nur für Männer gelten. Der asketische Sparzwang von Frauen wie Fatma, Zeliha beruht in dem Sinne auf einer Art Scheinverantwortlichkeit; sie verwalten zwar das Geld ihres Mannes, aber die Männer entscheiden trotzdem darüber, was sie mit dem Geld anfangen wollen. Als Timur sein Geld in Ankara vergeudet, sagt Fatma auch nicht einmal etwas darüber. Sie fand, daß sie Glück gehabt hatte mit diesem Mann. Es machte ihr nichts aus, daß er die Hälfte des Geldes, das er für die Teppiche erhalten hatte, verjubelte, auch wenn sie einen ganzen Sommer dafür am Webstuhl gesessen hatte. Natürlich gab es manches, das sie störte. […] Fatma machte sich keine Sorgen, er verdiente gut, es war immer Geld da, aber sie hatte begriffen, daß er mit diesem Geld nicht umgehen konnte, und sie ahnte, daß auch andere 148 Ibid., S. 112. 69 Tage kommen würden. Doch solange er an ihrer Seite war, konnte sie auch diesen Tagen lächelnd entgegensehen. 149 Das optimale Glück in einer komplementären (Muß)Ehe erreicht man also vor allem durch zahlreiche Kompromisse, durch Wohlwollen und wohlüberlegtes Stillschweigen, um des lieben Friedens willen. Diese kompromittierende Haltung findet man auch bei Gül wieder, obwohl die Erzählinstanz indirekt anzeigt, dass es in der Ehe von Gül nicht dasselbe Gleichgewicht gibt, als in der ersten Ehe ihres Vaters: Als der Mann der Familie verwaltet Fuat das Geld, investiert es in Glücksspiel oder Alkohol.[…] Was ihm in jungen Jahren das Glücksspiel ist, wird ihm im mittleren Alter das Lottospielen sein und im Alter, wenn er es geschafft hat, einiges auf Seite zu legen, die Börse. Nie wird er den Traum aufgeben, ohne Arbeit von einem Tag auf den anderen reich zu werden. 150 Die Komplementarität fehlt hier gewissermaßen, weil der Respekt und das Vertrauen nicht ausreichend sind. Die Erzählinstanz redet geringschätzig über das naive Verlangen von Fuat, über Nacht reich zu werden: es wäre besser, sein Geld mit Schwitzen zu verdienen, anstatt es nur so zu gewinnen. Er hätte die Verwaltung des Geldes besser seiner Frau überlassen oder er hätte sich wenigstens auf ehrliche Arbeit konzentrieren können, ohne dem sofortigen Erfolg nachzujagen. Das Geld in der Pappschachtel mehrt sich, doch eines Tages, in diesem grauen matschigen Herbst, beobachtet Gül, wie Fuat einen Schein in den leeren Karton legt. Sie sieht ihn fragend an. – Es ist weg, sagt Fuat leichthin. Gül hebt die Hände, schiebt den Kopf vor und zieht die Augenbrauen hoch: Wohin? – Das Leben ist ein Spiel. Wer nichts gewagt, der gewinnt auch nichts, stellt Fuat fest. Es scheint ihn nicht zu bedrücken. – Wenn du mir eine Nähmaschine kaufen würdest, könnte ich auch etwas verdienen, sagt Gül. – Wieviel würde das denn sein? – Zehn Kuruş sind zehn Kuruş, sagt Gül. 151 Fuat hat also das Geld verspielt. Der Gegensatz zum noblen Charakter des Schmieds ist auffallend: der Schmied hat wenigstens noch einiges angeboten bekommen für sein gutes Geld: er hat immer einige Tage in Ankara verbracht, um zur Ruhe zu kommen. Er hat übrigens die Wertschätzung Arbeit ist von bei Fatma Fuat immerhin ganz und sehr gar geschätzt; jene verschwunden. Die sarkastische Bemerkung -“Wieviel würde das denn sein?” – zeigt dem Leser die Arroganz von Güls Ehemann. Die verschwenderischen 149 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 24. Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 296 151 Ibid., S. 288 150 70 Launen von Fuat sind nicht so unschuldig wie die vom Schmied, eben weil er den Respekt seiner Frau noch nicht verdient hat. Meiner Meinung nach steht Fuat deswegen auch für die moderne Zeit Symbol: der Unterschied zwischen dem schlichten Charakter des Schmieds und dem arroganten Charakter von Fuat deutet auf eine Zerstörung der ursprünglichen Komplementarität von Mann und Frau. Fuat guckt nach vorne, Gül guckt nach hinten. Fatma und Timur haben jedoch von der Hand in den Mund gelebt, sie haben gemeinsam jeden Tag “lächelnd entgegengesehen”, sowie Fatma es im obenstehenden Zitat schön formuliert hat. Der Plot kippt trotzdem auf einmal ins Negative um, als Fatma stirbt und ihre drei Kinder und Timur allein zurückbleiben. Der Alltag geht jedoch unerschütterlich weiter, und bald bekommen die Kinder eine ‘neue’ Mutter. Die rasche Entscheidung, Arzu als neue Frau zu nehmen, soll die pragmatische, normierte Lebensweise noch einmal extra betonen. Arzu hatte schon eine Ehe geführt; diese Ehe musste später jedoch aufgelöst werden, weil ihr Mann nicht dazu im Stande war, ihr Kinder zu schenken. Diese unglückliche Frau bekommt jetzt eine neue Chance, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erobern. Ohne Kinder und Mann würde es ihr überhaupt nicht gelingen und würde sie noch lange “zum Gespött der Leute” 152 sein. Die berechnende Haltung von Zeliha wird in untenstehendem Zitat zwar stark betont, aber dem Leser wird auch gezeigt, dass Tradition und Normativität am stärksten die Haltung der Leute beeinflussen. Es gibt ja für jede Situation Regeln und Ausnahmen; wie auch für die Situation von Arzu und Timur: Kennst du Arzu, die Tochter des Kutschers Faruk? [Hülya] – Diese junge Frau, die drei Brüder hat. […] – Ja, genau die. Ihr Vater wird sie uns bestimmt geben. – Wieso? Wieso sollte er das tun? Warum sollte er seine Tochter mit einem Witwer verheiraten? Nur weil Timur etwas Geld hat? Warum sollte Faruk seine Tochter jemandem geben, der drei kleine Kinder hat, die man großziehen muß? Zeliha schüttelt langsam den Kopf. – Du kennst die Geschichte nicht? […] Sie haben sie verheiratet, als sie vierzehn war, und dann […] hat sich herausgestellt, daß er ihm nicht steht. […] – Sie ist noch…? Zeliha nickt. 153 152 153 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 105 Ibid., S. 62. 71 Der radikale Pragmatismus, der auch im unbewogenen Erzählstil widerspiegelt wird, steht ja in schroffem Gegensatz zum emotionalen Benehmen der Ich-Erzählerin und ihrem kindlich-naiven Schreibstil in der Karawanserei. Die Mitglieder der traditionellen türkischen Gesellschaft werden von den zahlreichen Regeln, die die öffentlichen und privaten Bereiche ganz präzis und effizient strukturieren, dominiert. Der freie Wille ist hier der pragmatischen Ordnung der Gesellschaft untergeordnet. Es scheint so, als ob es für jede bekannte Situation bestimmte Regeln gibt. Die ganze Gesellschaft ist also sehr streng organisiert und somit gerade das Gegenteil der chaotischen, vielseitigen Gesellschaft, die Özdamar beschrieben hat. Die Kollektivgeschichte von Özdogan fokussiert deswegen auch gar nicht auf Dissidenten oder deviante Figuren, die aus der Reihe tanzen. Die Dissidenz wird einfach totgeschwiegen oder tabuisiert. So wird zum Beispiel nicht darauf eingegangen, was gerade mit dem damaligen Ehemann von Tante Hülya passiert ist; in der Erzählung von Özdogan wird fast alles verschwiegen, was die öffentliche Ordnung stören könnte. Die Plotentwicklung ist nur indirekt beschäftigt mit dem unehrlichen Schicksal der Frauen, die oft in der Tat zum Schweigen verurteilt sind patriarchalisch und keinen strukturierten richtigen Gesellschaft Ausweg aus bekommen. der Der streng Erzähler verrät auf einmal seine pessimistische Sichtweise, als er über die aussichtslose Situation von Gül redet: Alle haben gelogen. Sie weiß die ist allein. Zum ersten Mal in niemanden, zu dem sie gehen Allein. Wenn es einmal so weit aber das weiß sie noch nicht. 154 Wahrheit, aber sie kann sie nicht teilen. Sie ihrem Leben ist sie ganz allein. Es gibt könnte, niemanden, der ihr glauben wird. gekommen ist, hört es nie wieder ganz auf, Jene Kommentar des Erzählers verrät die künftige Plotentwicklung und die Handlungen fundamentale der Einsamkeit Figuren von durch Gül ist die ganze anders als Geschichte. Die im von Roman Özdamar nicht durch eine emanzipierte Haltung verursacht worden, sondern durch den passiven Konformismus. Dadurch dass sie immer 154 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 81. 72 geschwiegen hat, immer die Verantwortungsvolle gewesen ist, immer betrogen und belogen worden ist, immer sich selbst geblieben ist und kaum Emanzipation oder Entwicklung nachgestrebt hat, wird sie am Ende eine verbitterte Frau sein. Die kleinen Dinge, die sie für sich selbst tut, sind wenig zahlreich, im Gegensatz zum egozentrischen Benehmen der Ich-Erzählerin in der Karawanserei. Jahrelang wird sie das Geld, das sie für Zigaretten braucht, von ihrem Haushaltsgeld abzwacken und ohne Fuats Wissen rauchen. Sie wird Sonderangebote studieren und Schnäppchen jagen, sie wird auf eine Strickjacke oder einen Wintermantel verzichten, um ihren Töchtern den einen oder anderen Wunsch zu erfüllen. Doch da es bei weitem nicht alle Wünsche sein werden, wird sie ergrimmt sein über ihren Mann, der seinen Freunden oder selbst Fremden gegenüber gern großzügig ist und sie viel häufiger einlädt, als es die Höflichkeit und der Anstand verlangen. Seinen Töchtern aber wird er nicht einmal eine zweite Barbiepuppe kaufen. 155 Die Freiheit von opportunistische Gül beschränkt Handlungen, die sich also keineswegs auf das einzelne, angeberische Benehmen von Fuat übertreffen können, der sich selbst und sogar Fremden gerne verwöhnt. Die egoistische Haltung von Fuat wird dadurch noch schlimmer, dass er anderen gegenüber großzügig ist, aber nicht seiner Familie. Hier sehen wir wiederum den Kontrast mit dem Schmied, der vor allem seiner Familie gegenüber großzügig war, und die Meinung der anderen Leute weniger wichtig fand. Die Geschichte von Özdogan, die ganze Schwarz-Weiß-Darstellung Plotentwicklung, charakterisiert könnte werden: somit der wie eine Schmied und seine Tochter sind wirklich zu gut für die lügende Welt, sie sind mit ihrem schlichten Charakter fast noch allein auf der Welt. Ihre Handlungen werden so oft idealisiert, dass sie zu Konzepten geworden sind; sie repräsentieren das einfache, traditionelle Leben in der Türkei, in dem Menschen sich nur um die Familie kümmerten und weniger mit sich selbst beschäftigt waren. Es ist, als ob Özdogan mit dem Finger auf den Kapitalismus gezeigt hat, der eine Umwertung aller Werte verursacht hat. 155 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 297. 73 9. Die Figurencharakterisierung: von Kategorisierung in der Tochter des Schmieds bis zur Personalisierung in der Karawanserei. Marion Gymnich hat die Modelle” 156 “mentale[n] aus der rezeptionsorientierten Narratologie von Ralf Schneider, “mittels derer sich die Konstruktion lässt” 157, beschreiben als von Figuren Ausganspunkt im für Rezeptionsprozess eine gender-orientierte Analyse genommen. Ich werde die mentalen Modelle benutzen, um zu zeigen, dass die Charakterisierung der Figuren der graduellen Verschiebung von Konformismus zur Emanzipation entspricht. Das erste Modell handelt von der Kategorisierung von Figuren. Jene Kategorisierung Soziale vereinigt. Kategorien Die stereotypisierte beruht und logische Geschichte auf unserem literarische Kategorien Argumentation von Wissen, Özdogan wäre mehr laut werden hier Schneider. zu dann, Typen dass kategorisierte die Figuren enthält, als die Geschichte von Özdamar. Ich habe vorher schon einige Charakterzüge erwähnt, die in der Tat auf eine gewisse Kategorisierung deuten. Der erste Typus ist zum Beispiel die böse Stiefmutter/Adoptivmutter. In der Tochter des Schmieds wird Arzu undoppeldeutig als opportunistisch umschrieben. Es hat nichts damit zu tun, dass sie die Stelle der biologischen Mutter eingenommen hat, sondern vielmehr mit der unzulänglichen Verantwortlichkeit und der fehlenden Sorgsamkeit. Ich verweise andermal auf die ‘Volksweisheit’ über Stiefmütter, die anscheinend der Realität entspricht: Das Mädchen, dessen Mutter stirbt, hält sich für eine Mutter, sagt man. Weißt du das? [Gül] –Ja. Meistens glauben die Leute, daß Gül nicht zuhört, wenn die Worte der Ahnen in ihrer Gegenwart zitiert werden. Wer keine Mutter hat, hat auch keinen Vater. Stiefmütter geben verwässerten Ayran und die verbrannte Ecke des Brotes. Sie kennt diese Sprichwörter, die für sie alle das gleiche bedeuten: Sie muß auf ihre Schwestern achtgeben. 158 156 Marion Gymnich: “Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung.” In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. von Vera und Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler. 2004. S. 122-142, hier S. 130-131. 157 Ibid., S. 130. 158 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 100. 74 Der bedingungslose Altruismus der biologischen Mutter, die Bindung der Mutter zu den eigenen Kindern impliziert hier zweierlei: Arzu wird sich immer mehr um ihre eigenen Kinder kümmern, als um die Kinder des Schmieds. Deswegen muss Gül also ihre Verantwortlichkeit aufnehmen und die fehlende Mutterliebe zu kompensieren versuchen. Die zweite Kategorisierung in der Figurencharakterisierung ist die der Schwiegermutter. Zeliha und Berrin, die Schwiegermutter von Arzu und Fatma bzw. die Schwiegermutter von Gül, sind meistens skrupellose Frauen, die von einer Art Kaltblütigkeit charakterisiert werden. Das patriarchale System ist eigentlich dafür verantwortlich: als junge Mädchen sind sie auch einst die Dienstmagd der Schwiegereltern gewesen. Das System hat sie hart gemacht und Gül ist natürlich sehr weich. Je älter die Frauen werden, je mehr Verantwortlichkeit, Macht und Autorität sie bekommen. Es ist jedoch auffallend, dass hier von Sympathie und Einfühlung kaum die Rede ist. [Berrin]- Was ist das? fragt sie. Ist heute dein fauler Tag? Willst du, daß wir alle frieren ? [Gül] – Es ist gar nicht so kalt. Ich mache es sofort nach dem Frühstück, sagt Gül und nimmt aus Trotz noch einen Schluck von ihrem Tee. Es wird schon nicht das ganze Haus auskühlen, wenn sie den Ofen zehn Minuten später anmacht. Außerdem haben sie alle schon mal in Zimmern geschlafen, in denen es gefroren hat. Auch ihre Schwiegermutter. – Los, los, sagt Berrin, sitz nicht so faul rum und spiel mir den Teegenießer. 159 Die Kategorisierung der Schwiegermutter als eine gefühllose, durch das Leben und patriarchale System kalt und hart gewordene Frau, liegt also deutlich vor. Die Schwiegermutter von Fatma ist in der Karawanserei unendlich viel sympathischer und empathischer dargestellt worden. Sie entspricht mehr oder weniger dem Typus der “Mentorenfigur im Bildungsroman” 160, aber ihre Persönlichkeit ist nicht nur mit der Erziehung des Mädchens verbunden. Sie ist eine unabhängige, dynamische Gestalt, die selbst noch eine gewisse Entwicklung zur Emanzipation und zu freiem Denken erlebt. Sie ist von ihrem Sohn abhängig, aber idealisiert ihn nicht, wohl im Gegenteil. Sie ist zwar von den alten, patriarchalen Strukturen beeinflusst worden, aber sie redet mehr darüber, als dass sie tatsächlich ihre Macht und 159 160 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 258. Gymnich: “Figurencharakterisierung”. S. 130. 75 Weisheit benutzt. Ich habe schon erwähnt, dass die Beziehung zu ihrer Schwiegertochter Verständnis ja offensichtlich beruht, aber nicht trotzdem immer eine auf gegenseitigem gewisse Sanftheit und gegenseitigen Respekt aufzeigt. Als Fatma depressiv ist, versucht Ayşe sie dazu zu motivieren, aufzustehen: Großmutter ging mit einem Spiegel zu meiner halben Mutter, hielt ihr den Spiegel vor das Gesicht, sagte: “Steh auf.” Mutter sagte nichts. Großmutter hielt den Spiegel weiter vor ihr Gesicht, viele Fliegen kamen und setzten sich auf diesen Spiegel […]. 161 Die Großmutter/ Schwiegermutter ist in der Karawanserei nicht mehr kategorisiert, sondern personalisiert. Zwar ergeben sich auch aus dem personalisierten mentalen Modell Interferenzen, Hypothesen und Erwartungen, doch werden diese nicht automatisch und unbewußt auf das Auftreten bestimmter, verläßlicher Handlungen und Eigenschaften gerichtet, da solche nicht in dem Maße a priori verfügbar sind wie bei Kategorisierung. 162 Die Emanzipation der Großmutter hat jene Personalisierung verursacht; sie lässt sich von ihrer Enkelin dermaßen beeinflussen, dass sie selbst ihre zweite Jugend erlebt. Die Kategorisierung von Fuat ist oben schon ausführlich besprochen: er wird als Prototyp der Generation dargestellt, die wegen des Geldes nach Deutschland gezogen ist. Fuat ist ein Kapitalist, der außerdem nicht viel Respekt vor den Wünschen seiner Frau hat. Er ist so egoistisch, dass er nicht einmal die Familie mehr respektiert. Die Diskrepanz zwischen dem Altruismus von Gül, die alles für die Familie macht, und seinem Egoismus ist ja auch ein Symptom für die Diskrepanz zwischen der traditionellen türkischen Gesellschaft und der künftigen deutsch-türkischen Gesellschaft. Im Gegensatz dazu steht logischerweise die Kategorisierung vom Schmied und seiner Tochter: sie beide sind Konformismus die und Repräsentation des kollektiven, des goldenen schlichten Zeitalters, des Charakters der türkischen Leute auf dem Lande in den fünfziger und sechziger Jahren. Ab und zu bekommen Entstereotypisierung 161 162 und wir einige Kommentare Individualisierung dazu, beitragen die sollen: zur die Özdamar: Karawanserei. S. 288. Gymnich: “Figurencharakterisierung”. S. 131. 76 gender-Stereotypisierung wird an einigen Stellen im Buch von Özdogan abgeschwächt. Ich habe im Kapittel über die Erzählinstanz schon darauf hingewiesen, Charakterzügen betont sind. bei Jenes dem das das Schmied und Gleichgewicht gender-Stereotypisierung und hat ideale Gleichgewicht seiner also radikaler Tochter zur am von meisten Abschwächung Kategorisierung der geführt. Deswegen gibt es bei Özdogan auch eine Art Individualisierung der Figuren. Die Individualisierung des Schmieds und seiner Tochter ist das zweite mentale Modell, das in meiner Lektüre vertreten ist. “Der Unterschied zwischen Kategorisierung und Individualisierung ist [jedoch] nicht grundsätzlicher, sondern vielmehr gradueller Natur.” 163 Der Schmied und seine Tochter sind meiner Meinung nach idealisiert und stereotypisiert dargestellt, aber ab und zu “erfolgt aufgrund zusätzlicher textueller Informationen eine Erweiterung des “mentale[n] Modell[s] einer zuvor kategorisierten Figur um neue Merkmale und Erwartungen”. 164 Die Individualisierung von Gül ist am deutlichsten auf der letzten Seite des Buches. Gül, die in der Geschichte vor allem Angst bekommen hat, redet jetzt über den Tod und spricht zum ersten Mal recht aus ihrem Herzen: Ich habe keine Angst vor dem Tod, sagt sie, glaub mir, ich habe keine Angst mehr vor dem Moment, in dem der Engel des Todes kommt, um mich zu holen. Vor ein paar Jahren noch war das anders. Da wollte ich nicht sterben, wenn ich gerade glücklich war. […] Ich habe gelogen, aber ich habe nicht betrogen, und ich habe mich nie verkauft in diesem Leben, ich habe nie jemanden bespitzelt oder etwas geklaut. Vielleicht auch nur deshalb, weil es die Umstände nicht erfordert haben. 165 Dieses letzte Bekenntnis ist ganz ehrlich und offen; hier sehen wir Gül auf einmal als eine menschliche Gestalt, obgleich sie sich selbst beschönigt und mit der Aussage “weil es die Umstände nicht erfordert haben” ihr passives Benehmen doch mehr oder wenig zu rechtfertigen versucht. Sie hat in ihrem Leben nichts falsch gemacht, weil es keinen Anlass dazu gab. Eigentlich könnten wir konkludieren, dass der freie Wille von Gül den Umständen immer untergeordnet gewesen ist, nur 163 Gymnich: “Figurencharakterisierung” S. 131. Ibid. 165 Özdogan: Die Tochter des Schmieds. S. 308. 164 77 deshalb hat sie sich nicht slecht benommen. Sie gestattet trotzdem für sich selbst, dass sie auch einmal glücklich gewesen ist. Jenes ehrliche Zeugnis ist meiner Meinung nach wertvoller als die ständige Idealisierung von Gül durch die Erzählinstanz. Die mentalen Modelle der Entkategorisierung und Personalisierung treffen wir nur in der Karawanserei an. Entkategorisierung bedeutet nach Schneider “de[n] Informationen Figur über konfrontiert Vorgang […], eine zuvor wird, welche bei dem kategorisierte die der Rezipient bzw. bisherige mit individualisierte Ausgestaltung des Modells […] als inadäquat erscheinen l[ässt].” 166 Die Mutter von Gül ist in dem Sinne entkategorisiert worden: sie ist eine Mutterfigur, die von der modernen Gesellschaft und ihrem (unverantwortlichen) Mann überfordert wurde, und deswegen depressiv geworden ist. Sie ist keine statische Figur; keineswegs ihre mütterliche bedingungslos oder Verantwortlichkeit von den ist äußeren außerdem Umständen unabhängig. Im Gegensatz zur unzulänglichen Verantwortlichkeit der Stiefmutter Arzu in der Tochter des Schmieds ist das menschliche Benehmen von Fatma in der Karawanserei eben dafür zuständig, dass die Mutterfigur von Fatma entkategorisiert wurde: sie ist nicht der Ausdruck der positiven oder negativen Bewertung der Mutterfigur, sie kann nicht einfach in diese oder jene Kategorie eingegliedert werden. Ich habe schon erwähnt, dass ihr Benehmen manchmal paradox ist: sie will ihre Tochter vor aller ‘Bösheit’ in der Welt schützen, aber zugleich will sie, dass die Ich-Erzählerin eine gute Ausbildung bekommt und sich selbst möglichst gut entwickelt, so dass sie unabhängig von einem Mann leben kann. Der Vorgang der Personalisierung ist also vor allem für die Ich-Erzählerin und die Großmutter in der Karawanserei zutreffend. Die Ich-Erzählerin ist ja noch mehr als die Großmutter personalisiert worden. Wir müssen ihr Benehmen ständig zu erklären versuchen, denn manchmal ist ihre Erzählung dermaßen von der eigenen Sichtweise geprägt 166 worden, dass wir ihre Handlungen und Aussagen nicht Gymnich: “Figurencharakterisierung” S. 131. 78 unbedingt motivieren oder erklären können. Das “umfassende[.] Verständnis der Figur” 167 kommt nach meiner Meinung erst am Ende der Geschichte: ihre Geisteskrankheit, ihre dichterischen Qualitäten und ihre emanzipierte, sonderbare Haltung haben alles in allem zur tapferen Entscheidung der jungen Frau geführt, die Türkei zu verlassen. Das Verlangen nach dem Fremden, das bei ihr schon von Anfang an anwesend ist charakterisieren und die der ständige Ich-Figur als Aufenthalt in Randbereichen, normdurchbrechende Einzelgängerin, die durch ihren verfremdenden Blick auf die türkische Gesellschaft der vierziger und fünfziger Jahre eine a-typische Mischung von Naivität und Emanzipation und von Eigenem und Fremdem hervorgerufen hat. 10. Schlussfolgerung Ich habe mit diesem kritischen Beitrag über die erzählerische Konstruktion von Weiblichkeit zeigen wollen, dass das Geschlecht des Autors und somit auch das Geslecht der Erzählinstanz, die Darstellung von Räumen, die Plotentwicklung, die Handlungen von Figuren und die Figurencharakterisierung weitgehend beeinflusst. Der auktoriale Erzähler in der Tochter des Schmieds hat vorgegeben, die Geschichte eines Mädchens aus der Türkei zu beschreiben, aber er hat seine Erzählung vor allem aus männlicher Sichtweise gestaltet. Die Subjektivierung von Gül wird durch die Zentralisierung des Schmieds unterminiert. Sie steht als Hauptfigur immer im Schatten des Schmieds, der eine Art ideales Gleichgewicht von Tugenden und Schwächen vertritt. Gül ist zwar auch idealisiert worden, aber sie ist als Frau doch immer noch ein Anpassungsfähigkeit Opfer und des ihr patriarchalen konformistisches Systems; ihre Benehmen passive gelten in dieser Geschichte als höchste Tugend. Die Erzählinstanz hat die Evokation von Tugenden, wie Verantwortlichkeit, Sorgsamkeit, Fleiβigkeit u.a. verflochten mit einem 167 Gymnich: “Figurencharakterisierung.” S. 131. 79 gender-stereotypisierten nach ihrem Weltbild: die die jeweilige Geslecht, Figuren sind kategorisiert Charaktereigenschaften je von Männern und Frauen sind dazu verantwortlich, dass die Gemeinde eine weitgehende Aufgabenverteilung durchgeführt hat, um die Gesellschaft möglichst pragmatisch zu ordnen. Die Komplementarität ist in dem Sinne das höchste Gut: Mann und Frau sind fast prädestiniert, sich später zu verheiraten und die Mutter- bzw. Vaterrollen auf sich zu nehmen. Emanzipation ist in dem Sinne überhaupt nicht möglich; das würde die öffentliche Ordnung der patriarchalen Gesellschaft zerstören. Özdogan Menschen hat in seiner betonen Geschichte wollen: dadurch jene schlichte Einstellung dass sie den sich von Umständen unterordnen und der freie Wille nicht als das höchste Gut betrachten, sondern ihre Familie, gelangen sie zum wirklichen Glück. Die Freiheit gibt es dann in kleinen Sachen. Der Kapitalismus hat eigentlich das schlichte, tradierte türkische Alltagsleben gründlich verstört; er hat zum Beispiel dafür gesorgt, dass die Hauptfigur ihre Familie verlassen hat, um nach Deutschland zu ziehen. Die Komplementarität von den Geschlechtern kann nicht weiterexistieren, als man das Einfache oder Eigene nicht mehr schätzt. Das ist meiner Meinung nach die Moral, die man im Buch von Özdogan trifft: der Konformismus wird in Deutschland vielleicht als eine Bedrohung des Eigenen betrachtet, aber in der Türkei hat es die Weiterexistenz von Werten und Normen garantiert. Özdamar hat eine radikal andere Positionierung eingenommen: ihre Erzählperspektive hat dafür gesorgt, dass die Geschichte alles andere als eine kollektive oder exemplarische Geschichte geworden ist. Verfremdung und emanzipatorische westlichen Einfühlung Entwicklung Bildungsromane, kindlich-naive Perspektive) wechseln der aber einander Hauptfigur der erinnert persönliche verursacht ständig zwar ab: die an die Schreibstil Verfremdung. (die Die Personalisierung des Mädchens wird durch die besondere Beziehung zur Fremden gesteuert: sie ist eine dynamische Gestalt, weil sie immer die Grenzen ihrer Welt verkennt und erweitert. Das Leben ist für sie 80 eine Karawanserei: es gibt immer eine Fluchtmöglichkeit, jeder einzelne Mensch braucht eine Konfrontation mit dem Fremden, um einzusehen, dass hinter der Schwelle noch tausende möglichen Welten offenliegen. Die Übergangszone ist für sie immer am Wichtigsten gewesen: die eigene Sichtweise wurde mit Erfahrungen aus der Fremde ergänzt und schlie βlich immer neu angepasst. Die Flex ibilität der IchErzählerin verrät eine weitgehende Anpassungsfähigkeit: sie wird sich immer zu Hause fühlen in der Fremde, dazu aber braucht sie einen gewissen Kontrast mit dem Eigenen. Es genügt mit anderen Worten nicht, um sich irgendwo ganz und gar zu Hause zu fühlen; sie braucht Neuigkeit und Abenteuer um den Erfahrungshorizont ihrer Kenntnis zu erweitern. Das Fremde und das Eigene sind komplementär; sie relativieren einander und verstärken einander zugleich. Özdamar hat einen ganz persönlichen Bildungsroman geschrieben, der den Vielfalt der türkischen Gesellschaft und die Möglichkeiten zur Selbstentwicklung radikal in den Vordergrund gerückt hat. 81 BIBLIOGRAPHIE Primärliteratur - ÖZDAMAR, Emine Sevgi : Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen au seiner kam ich rein aus der anderen ging ich raus. Köln: Kiepenheuer und Witsch. 1992. - Özdogan, Selim : Die Tochter des Schmieds Sekundärliteratur - ABADAN-UNAT, Nermin: “Legal and Educational Reforms.” In: Women in Middle Eastern History. Shifting boundaries in sex and gender. Hrsg. von Nikki R.Keddie und Beth Baron. New Haven, Londen: Yale University Press. 1991. S. 177 - 194. - ALLRATH, Gaby und SURKAMP, Vermittlung, unzuverlässiges Bewusstseinsdarstellung.” Carola: Erzählen, In: “Erzählerische Multiperspektivität Erzähltextanalyse und und Gender Studies. Hrsg. von Vera und Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler. 2004. (=Serie Sammlung Metzler, Bd.344). S. 143 - 179. - GUTENBERG, Andrea: “Handlung, Plot und Plotmuster.” In: Erzähltextanalyse Ansgar Nünning. und Gender Stuttgart: Studies. Metzler. Hrsg. 2004. von Vera (=Serie und Sammlung Metzler, Bd.344). S. 98 - 121. - GYMNICH, Marion: Figurencharakterisierung.” “Konzepte In: literarischer Erzähltextanalyse Figuren und und Gender Studies. Hrsg. von Vera und Ansgar Nünning. 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Aus der Nische in die breite Öffentlichkeit.” Rotary International. 11.2006. <http://rotary.de/rotary_verlag/rotary_magazin/0611/1106_alma nya.pdf> S. 46 - 48. - KROISSENBRUNNER, Sabine: “Barbara Frischmuth und Emine Sevgi Özdamar. ‘Schrift des Freunds’- ‘Die Brücke vom goldenen literarischer Horn’- ‘Seltsame Blickwinkel Sterne starren zum Thema zur Erde’. Türkei Ein und Europa.”19.04.05http://www.kreisky.org/kreiskyforum/pdfs/ruec k/236.pdf S.1- 11. 84